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Skandalös mit Delikatesse

■ Mit Pagenschnitt, Eyeliner und gezielten Ohrfeigen kreierte sie einen neuen weiblichen Stil: die existentielle Frau. Heute wird Juliette Gréco siebzig

Seit 50 Jahren trägt Juliette Gréco ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid, auf dem sich ihre schönen Hände bewegen, während sie – von einem Pianisten begleitet – singt. Eine tiefe, samtene Stimme aus dem Schatten. Ihre Chansons trägt sie distanziert vor, ohne Überschwang der Gefühle. Nach ihren eigenen Worten ist sie „erotisch mit Zurückhaltung und skandalös mit Delikatesse“. Jacques Prévert, Charles Aznavour, François Mauriac, Charles Trénet, Georges Brassens, Léo Ferré, Jean Cocteau, Marguerite Duras, Guy Béard, Jacques Brèl, Serge Gainsbourg dichteten und komponierten für die existentialistische Muse.

Ihre Kindheit verbrachte sie auf dem Land, wo sie bei ihren Großeltern aufwuchs. Ihre Mutter sah sie kaum, ihren Vater kannte sie nicht. Nach dem Tod des Großvaters wurde die Großmutter irrsinnig, Juliette zog zu ihrer Mutter nach Paris. Dort verbrauchte „das unerträgliche Kind“ eine Hauslehrerin und Gouvernante nach der anderen. Während des Zweiten Weltkriegs schließt sie sich – wie ihre Mutter – der Résistance an und wird verhaftet. Nach der Befreiung von Paris wird sie begeisterte Genossin in einer Jugendorganisation der KP.

Juliette liebt Paris, wo sie von Hotel zu Hotel zieht, obwohl sie als kleine Theaterschauspielerin oft die Rechnung nicht bezahlen kann. Die Pariser Nächte der Nachkriegszeit sind euphorisch – in Saint-Germain-des-Prés, wo sich die Künstler und Schriftsteller treffen, die sich gegen die Zwangsjacke der „guten Erziehung“ wehren und in die Nacht hinein leben wollen. Die Existentialisten haben eine Vorliebe für verrauchte Jazzkeller (La Rose Rouge, Le Café de Flore, Méphisto, Le Bar Vert, Le Trottoir). Anne-Marie Cazalis bemerkt die schüchterne Juliette, die gleichgültig wirkt, kaum lächelt und ungern spricht. Sie erkennt, daß die junge Frau ein „gewisses Etwas“ besitzt, und prophezeit, daß sie berühmt sein wird. Sie nimmt Juliette unter ihre Fittiche und zieht mit ihr durch die Pariser Nachtlokale und stellt sie der Pariser Boheme vor.

In der Zeitung Samedi Soir erscheint der Artikel „Höllenmenschen! Existentialisten“ mit einem Foto, das Juliette Gréco in Begleitung von Roger Vadim im Tabou zeigt. Bald wird das Tabou zum Attraktionspunkt neugieriger Salonlöwen. Juliette, die den Keller entdeckt hatte, verscheucht die Voyeure, beleidigt oder ohrfeigt sie, zwickt die „diorisierten“ Damen in den Po. „Es gibt kein Danach in Saint-Germain-des-Prés, es gibt nur heute“, wird sie später singen. Das erste Lied, das sie öffentlich vorträgt (sie ist 22) lautet: „Scheiß- Existenz! Ich habe nichts mehr als diese Essenz, die mich definiert ...“

Die „Muse von Saint-Germain- des-Prés“ hat eine Menge Liebhaber, die Liste ihrer Freunde und Bekannten ist unendlich: Sartre, Beauvoir, Camus, Boris Vian, Raymond Queneau, Steinbeck, Faulkner, Jean Cocteau, Truman Capote, Yves Montand, Simone Signoret, Jean Genet, François Mauriac, Françoise Sagan, Picasso, Aragon, Eluard, Michel Piccoli, den sie heiratet ...

Später hat Juliette keine Lust mehr, auszugehen, bleibt lieber bei ihren Hunden und Katzen, weil sie „alle kennt und doch keinen Gesprächspartner hat“. Die antikonventionelle Sängerin beeinflußte Millionen von jungen Frauen. Man kopierte ihren Pagenschnitt, ihre Art, sich die Augen zu schminken: dicke dunkelbraune Eyelinerstriche, ansonsten keine Farben. Sie kreierte eine neue Mode, einen neuen weiblichen Stil: die existentielle Frau, ganz in Schwarz, mysteriös, verhalten.

Françoise Cactus

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