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Das Rad als Maß aller Dinge

■ 32 Autoren schreiben ausdrucksstark rund um das Fahrrad

Kann man als Herausgeber einer Anthologie viel falsch machen? Wohl kaum. Der Herausgeber einer „Blumenlese“ – laut Fremdwörterduden: „ausgewählte Sammlung, Auswahl von Gedichten oder Prosastücken“ – muß bienenfleißig in Archiven und Bibliotheken herumstöbern, eine Schar literarisch beschlagener Hinweisgeber um sich versammeln, dann das Material sichten und letztlich ein gutes Händchen bei der Zusammenstellung der Texte haben. Und sonst? Ein halbwegs gescheites einführendes Vorwort und/ oder nachbereitendes Nachwort, ein schmissiger Titel nebst Lust machender Unterzeile, dazu der obligatorische Quellenhinweis – fertig ist die Anthologie.

Recht ähnlich wird auch der Anthologe Hans-Eberhard Lessing verfahren sein bei seiner Auswahl „Ich fahr' so gerne Rad“. Lessing spricht Profipedaleure wie Hobbyradler an, die ihre Fortbewegungspriorität auf literarische Art bestätigt lesen wollen. Wie das Katzenkopfsteinpflaster ostdeutscher Nester durch seine Ecken und Kanten erschüttert, rüttelt das Intro „Über das Buch“ durch seine Ausdrucksgewalt auf: „Das Fahrrad an den Hörnern zu packen und aus der Sozialkontrolle der Nachbarschaft hinauszuschwärmen in eine Welt voller Abenteuer: Das ist seit 178 Jahren das Thema von Visionären und Nonkonformisten, von emanzipierten Frauen oder genießerischen Poeten gewesen.“

32 überwiegend bekannte AutorInnen haben sich des Fahrrads literarisch angenommen: von Mark Twain, der über das Zähmen des Hochrades („das graziöse Spinnengewebe“) fabuliert, bis zum Erfinder Freiherr Karl von Drais zu Mannheim, der über seine Laufmaschine, die heute vielerorten touristisch genutzte Draisine, Auskunft gibt. Sarah Bernhardt, die französische Schauspielerin und Theaterdirektorin, bejubelt das Fahrrad als sittenveränderndes Emanzipationsvehikel: „All diese jungen Frauen, all die jungen Mädchen, die losfahren und den Raum erobern, hängen einen Großteil des häuslichen Lebens, des Familienlebens an den Nagel.“ Geschrieben anno 1896. Zwei Jahre später pedalierte Margaret Valentine le Long allein von Chicago nach San Francisco quer durch die Staaten.

Und wir erfahren in dieser Anthologie obendrein noch unbekanntes Biographisches: zum Beispiel von Simone de Beauvoir, daß „Sartre lieber Radtouren als ,Fußwanderungen‘ unternahm“. Oder vom späteren US-amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt himself, daß er als Präsident des New Yorker Polizeiaufsichtsamtes eine Schwadron von wagemutigen „Fahrrad-Cops“ befehligte.

Schon heute freuen wir uns auf Anthologien derselben Machart: „Ich fahr' so gerne Paddelboot“/ „Ich fahr' so gerne Zeppelin“. Günter Ermlich

„Ich fahr' so gerne Rad ... Geschichten von der Lust, auf dem eisernen Rosse dahinzujagen“. Herausgegeben von Hans-Erhard Lessing. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1996, 14,90 DM

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