Schmutzige Riten, zauberhafter Besitz

■ Die Literatur als Unterhändlerin im Streit um die Welt – Der amerikanische Literaturhistoriker Stephen Greenblatt zu Gast am Berliner Wissenschaftskolleg

Die Kunst, sagt der amerikanische Literaturhistoriker Stephen J. Greenblatt, exponiert und bewahrt historische Konflikte. Das ist mehr, als dem Verhältnis zwischen Gesellschaft und Kunst normalerweise zugetraut wird.

Greenblatt, Anglistikprofessor in Berkeley, zur Zeit am Berliner Wissenschaftskolleg, ist mit dieser These zum international renommierten Mr. „New Historicism“ geworden, hat eine große Schar von Schülern und Feinden und nennt mit „The Poetics of Culture“ eine gutgehende Publikationsreihe sein eigen.

Greenblatts wissenschaftliches Fundament ist eine Textsorte, die schon von Walter Benjamin geadelt wurde: die Anekdote. Aus historischen (gern auch mal autobiographischen) Anekdoten schlägt Greenblatt Problemstellungen, in deren Spannungsbögen sich seine Kulturgeschichten Halt suchen: ethnologisches Material aus Old Europe; Sexualität, Bauernrevolten und immer wieder Shakespeare. Es geht um „Schmutzige Riten“ und „Marvellous Possessions“: um das maßlose Erstaunen des Columbus bei der Entdeckung einer neuen Welt – und über ihre schrankenlose Aneignung. An seiner Fakultät schreibt man über alles, was wir heute gern als unsere Vergangenheit lesen: Jahrmärkte, Hexenverbrennungen, Krankheit, Wahnsinn, Geburt und Tod. Und das pralle Individuum.

Zeitgleich mit Foucault, der Ende der Siebziger in Berkeley über griechisch-römische Techniken der Selbstbildung nachdachte, machte sich Greenblatt an seine Selbstbilder in der Renaissance. Die können als eine Art Prototyp des „New Historicism“ gelten. Programmatisch die Einleitung: „Selbstbildung beschreibt die Praxis von Eltern und Lehrern, kann Heuchelei oder Betrug bedeuten und bedeutet die Darstellung (representation) der eigenen Natur in Rede oder Handlung. Hier funktioniert sie ohne Rücksicht auf eine scharfe Trennung von Literatur und gesellschaftlichem Leben. Sie überschreitet unweigerlich die Grenzen zwischen der Erschaffung literarischer Charaktere, der Gestaltung der eigenen Identität, der Erfahrung, von Kräften geformt zu werden, die sich der eigenen Kontrolle entziehen, und dem Versuch, das Selbst eines anderen zu bilden. Solche Grenzen können in der Literaturwissenschaft streng eingehalten werden, doch wir zahlen einen hohen Preis dafür, weil wir den Sinn für die komplexe Interaktion von Bedeutung in einer gegebenen Kultur zu verlieren beginnen.“

Alles, was wir machen, macht Sinn – Greenblatt geht lange Wege mit der interpretativen Kulturtheorie konform. Grenzen findet er nicht zwischen den Disziplinen, sondern in den Auseinandersetzungen um Selbstbildung und Weltauslegung. Die Literatur bleibt ihm – im Gegensatz zum deutschen Diskurstheoretiker – gleichwohl das universelle Speichermedium für diese Prozesse. Darin erweist er seiner alten und gern geschmähten Schule Yale letzte Reverenz. Es sind die formalen literarischen Konflikte mit ihren ausgebufften rhetorischen Strategien, in denen sich Verhaltensrollen am subtilsten mitteilen. Literatur als Unterhändlerin im Streit um die Welt: „Große“ Werke sind „Strukturen zur Akkumulation, Transformation, Repräsentation und Kommunikation gesellschaftlicher Energien und Praktiken.“

Heute abend wird er in der Berliner Vorabendserie „Erbschaft unserer Zeit“, die vom Einstein- Forum und den Berliner Festspielen veranstaltet wird, über die Geschichte der Literaturgeschichte sprechen, die natürlich auch eine Geschichte von Grenzziehungen ist. Schriftkenntnisse entschieden im juristischen Diskurs der frühen Neuzeit über Leben und Tod. Ein Mörder, der die Kulturtechnik des Schreibens beherrschte, stand jenseits weltlicher Gesetzgebung. Bevor man ihn der Kirche übergab, wurde ihm aber der Distinktionsgewinn mit einem „M“ in den Leib gebrannt. Die Literaturhistoriker, sagt Greenblatt, transportieren diesen symbolischen Sieg der Schrift über den Tod bis ins 20. Jahrhundert. Fritz v. Klinggräff

Stephen Greenblatt spricht heute abend um 19 Uhr, im Otto-Braun- Saal der Berliner Staatsbibliothek (Englisch/Simultanübersetzung)