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Der S-Bahn-Tod als letzter Ausweg

Aus Angst vor einer Erpresserbande legte ein 17jähriger aus Hamburg seinen Kopf auf die S-Bahn-Gleise. Sein Freitod wirft die Frage auf, warum Dutzende Opfer der Gang so lange schwiegen  ■ Von Per Hinrichs

Was hätte man tun können? René zögert mit der Antwort. Angestrengt sieht der 18jährige Hamburger auf den Bahnsteig der S-Bahn-Station Neuwiedenthal. Teelichter und Kerzen flackern im Windzug, an der Stelle, an der sich der 17jährige Mirco Sch. am Freitag vor zwei Wochen vor die einfahrende S-Bahn geworfen hatte. Zettel und Plakate liegen aus. „Mirco, wir lieben Dich“ prangt auf einem Bettlaken, das jemand um einen Laternenpfahl auf dem Bahnsteig geschlungen hat. Darunter ein paar Dutzend Namen. René hat auch unterschrieben. „Der Mirco war ein ganz Stiller. Da wußte ja keiner was von.“

Keiner – bis auf die 40 bis 60 anderen Jugendlichen, die die Neuwiedenthaler Erpresserbande ebenfalls bedroht und bestohlen hat. Aus Angst hatten sie monatelang geschwiegen, ihren Eltern und selbst ihren Freunden kaum etwas erzählt, bis Mirco sich umbrachte.

Jahrelang mußte er Geld abliefern, zuletzt verlangte die Bande 750 Mark im Monat. Soviel verdiente der Junge als Kfz—Mechaniker-Lehrling. Nun trauten sich auch die anderen Opfer zur Polizei und sagten gegen die Erpreser aus. Der mutmaßliche Anführer Amour S., 18, sitzt in Untersuchungshaft, andere Mittäter hat die Polizei schon wieder auf freien Fuß gesetzt. Sie sind noch minderjährig.

Dabei brodelt es auch in anderen Hamburger Stadtteilen: In Wilhelmsburg nahm die Polizei am Freitag einen 13jährigen mit einer geladenen Pistole fest. Sein Freund trug weitere 22 Schuß scharfer Munition mit sich herum. Einzelfälle. Wohl kaum, wenn man der Statistik der Polizei glauben darf: In Hamburg begehen Jugendliche unter 21 Jahren 71 Prozent aller Raubtaten und 41 Prozent aller Gewalttaten.

Das Örtchen Neuwiedenthal liegt noch weiter weg vom Schuß als die typischen Silo-Siedlungen. Eine Dreiviertelstunde lang schlängelt sich die S-Bahn vom Hauptbahnhof aus über die Elbe, durch Industriegebiete und an Reihenhausketten vorbei bis zur vorletzten Station, Neuwiedenthal. Von Ferne ragen die halbkreisförmig angeordneten zehn- bis dreizehngeschossigen Wohnblocks aus dem Horizont.

Die „Stubbenhof“-Gang nannten die Jugendlichen dort die Wegelagerer, denen sie Walkmen, Lederjacken oder ihr Taschengeld abliefern mußten. In der Straße Stubbenhof stehen die höchsten Hochhäuser Neuwiedenthals, hier konzentrieren sich die sozialen Brennpunkte des Stadtteils an der Hamburger Landesgrenze: Jeder dritte hat keine Arbeit, jede fünfte Familie lebt von Sozialhilfe. „Die meisten meiner Freunde haben keinen Hauptschulabschluß“, sagt René. „Ich habe einen bekommen, obwohl ich drei Fünfen hatte.“ Jetzt macht er eine Ausbildung als Gebäudereiniger, wie er halb spöttisch erzählt.

Für die Neuwiedenthaler Pastorin Susanne Lindenlaub-Borck ist das eine typische Lebensgeschichte. „Hier gibt es einfach nichts, womit man die Jugendlichen auffangen könnte. Sie haben kein Selbstbewußtsein und trauen sich zuwenig zu.“

Am vergangenen Wochenende hat die Pastorin die Jugendlichen zu einem Gespräch ins Pfarrhaus eingeladen. Thema: Wie man in Zuunft mit Erpressungsversuchen umgehen soll. Die 18jährige Pamela erzählt, sie sei von einem der Verdächtigen am Freitag gleich nach seiner Freilassung wieder bedroht worden. Sie hält ihr kleines Kind auf dem Arm. „Wo soll ich denn hin mit ihm?“ fragt sie die Pastorin. „Willst du, wollt ihr euch denn das ganze Leben von denen versauen lassen?“ fragt die zurück und blickt in die Runde. Die anderen 20 Jugendlichen nesteln an der Baseballkappe oder kauen angestrengt auf ihren Kaugummis herum. Keiner fühlt sich zum Widerspruch angeregt. Und als Susanne Lindenlaub-Borck die Runde mit der Bemerkung provoziert, daß sie sich dann auch alle vor die S-Bahn werfen könnten, antworten zwei Mädchen spontan mit Ja. „Wir können doch sowieso nichts ausrichten“, werfen sie ein. Kopfnicken im Kreis. Auf dem Bahnhof haben die Jugendlichen ihre Ratlosigkeit zu Papier gebracht. „Angst und Verzweiflung!!! Mußte es soweit kommen???“, steht auf einem der zahlreichen Zettel.

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