: Hoffentlich nie wieder
Vor 35 Jahren brachen in Wilhelmsburg die Deiche. Zeitzeugen erinnern sich. Ausstellung „Jahre danach ...“ im Bürgerhaus ■ Von Armin Struve
Tagelang hatte es aus Nordwest zum Teil orkanartig gestürmt. Dächer wurden abgedeckt und „immer in den Pausen ging man schnell einkaufen“, erinnert sich Olga Zirves an die Tage vor der Sturmflutnacht vom 16. auf den 17. Februar 1962. Seit 50 Jahren wohnt sie im Vogelhüttendeich in Wilhelmsburg. Vom Hafen hörte sie abends die warnenden Böllerschüsse. „Da mußte ich an die armen Leute am Hafen denken.“
Gegen 0.30 Uhr klingelte ein Nachbar: „Ihr schlaft und vor eurer Tür ersaufen die Leute wie die Ratten.“ Sie blickte auf den Kanal vor ihrem Haus, der noch ganz normal Wasser führte, und begriff noch gar nicht, was passiert war. Da sah sie in 300 Meter Entfernung von ihrem Haus, daß der Deich gebrochen war. Eine Kleingartensiedlung, in der Kriegsflüchtlinge wohnten, stand bereits unter Wasser. Olga Zirves schnappte sich ihr sechsjähriges Kind und erreichte noch vor den Fluten das gegenüberliegende, fünfstöckige Haus. Gartenhäuschen brannten. Als sich die Lage beruhigte, kehrte sie in ihr Haus zurück. Es wurde still und kalt. Erst am nächsten Morgen kamen die ersten Hubschrauber, um Lebensmittel abzuwerfen.
„Die Deiche, die uns beschützen sollen, sind nur so stark wie das schwächste Glied.“ Auch 35 Jahre nach der Flutkatastrophe haben viele Menschen in Wilhelmsburg die Ereignisse noch lebhaft vor Augen. „Die Erfahrungen sind eine Belastung“, weiß auch Axel Trappe, Leiter des Bürgerhauses Wilhelmsburg. Hier ist zur Zeit die Ausstellung „Jahre danach ...“ mit privaten Fotos und Zeitungsartikeln aus dem Jahr 1962 zu sehen. An 63 Stellen brachen die Deiche, mehr als 300 Menschen starben in der Nacht und in den Tagen danach. Über 40.000 Helfer waren im Einsatz. Die Fotos wirken beinahe undramatisch, sie dokumentieren die Szenerie in den Tagen danach.
Hans Riedel hatte am Abend des 16. Februar 1962 zunächst ganz andere Sorgen. Er hatte gerade erst seine hochschwangere Frau in die Klinik gebracht und tief geschlafen, als sein Vater ihn gegen drei Uhr weckte: „Es ist alles dunkel draußen und voll Wasser!“ Hans Riedel wollte ihm nicht glauben – bis er aus dem Fenster sah. Von weitem hörte er leise Hilferufe von Menschen, die auf die Dächer ihrer Häuser geflüchtet waren. Unter Wasser konnte man die Lichter von Autos erkennen, Hupen waren zu hören. Heizöl lief aus Tanks aus. Gegen 9 Uhr ging die Flut langsam zurück. Mit einem Besenstiel bewaffnet, machte Hans Riedel sich auf den Weg zur Klinik. Bauchhoch stand ihm das Wasser, während er mit dem Stiel vorsichtig vortastend durch die Straßen watete. Das Kind war noch nicht geboren. Seine Frau schickte ihn wieder nach Hause. Völlig durchgefroren kam er in dem schweren nassen Wintermantel an. Der Vater mußte ihn die Treppe rauftragen. Sehr gut erinnert Riedel die Hilfsbereitschaft der Leute. „Das war eigentlich ein schönes Ereignis. Heute ist das ja leider anders.“ Sein Kind kam am nächsten Tag zur Welt.
Alfred Zewuhn mußte als Polizeibeamter schon in den Tagen zuvor ständig Sturmschäden an Häusern begutachten. Außerdem kontrollierte die Polizei laufend den Deich. „Daß es so schlimm kommen würde, konnte keiner wissen“, erinnerte sich der heute 70jährige. Seine Schicht begann am 16. Februar um 22 Uhr. Gegen 1 Uhr brach der Deich an der Harburger Chaussee. Bei der Polizei lief nur noch die Funkzentrale. Das Licht und die Heizung waren ausgefallen. Vor Ort konnte Alfred Zewuhn nichts mehr tun. Er ging nach Hause, um nach seiner Familie zu schauen. Auch er mußte gegen die Strömung durch bauchhohes Wasser gehen. Seine Frau hatte den Polizeifunk über das Radio abgehört und wußte so, wie es ihrem Mann ging. Zusammen mit ihren Kindern war sie in der Wohnung. Auch im Haus der Zewuhns kam nun die Kälte. Nachdem die letzten Batterien ihren Geist aufgegeben hatten, war auch die Radioverbindung zur Außenwelt abgebrochen.
Am nächsten Tag machte er sich auf zum Deich. Dort koordinierte er die Rettungsmaßnahmen. Bei diesen Aktionen kamen auch einige der jungen Bundeswehrsoldaten ums Leben. Einige ertranken, nachdem sich ihre Schlauchboote an Stacheldrahtzäunen den Rumpf aufgerissen hatten. Alfred Zewuhn: „Ich hoffe, sie kehrt niemals wieder. Für keine Generation.“
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