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Einzelfall oder einer von vielen?

Der Strafprozeß gegen einen Sachbearbeiter der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge zeigt, auf welch abenteuerliche Art die ehemalige SS-Aufseherin Margot Pietzner entschädigt werden sollte  ■ Von Thomas Moser

Seit zwei Jahren ist die 76jährige Margot Pietzner aus Wittenberg (Sachsen-Anhalt) eine Person der Zeitgeschichte. Ende 1994 war bekannt geworden, daß sie im Frühjahr 1993 für ihre fast zehnjährige Haftzeit von 1946 bis 1955 in sowjetischen Lagern und DDR-Gefängnissen mit insgesamt 64.350 Mark entschädigt worden war. Inhaftiert war Margot Pietzner allerdings, weil sie 1944/45 als SS-Aufseherin in Außenlagern der KZs Sachsenhausen und Ravensbrück Dienst getan hatte. Nach heftiger öffentlicher Kritik wurde der Fall überprüft und im Sommer 1996 wurde Margot Pietzner die Rehabilitierung als ehemaliger politischer Häftling wieder aberkannt: die Entschädigungssumme wurde zurückgefordert.

Ein besonderer Aspekt des Falles Pietzner wurde Anfang Januar vor dem Amtsgericht in Moabit verhandelt: Ein Sachbearbeiter der für das Rehabilitierungsverfahren zuständigen Stiftung für ehemalige politische Häftlinge, Wolf-Dietrich K., war angeklagt, von Frau Pietzner 1.000 Mark aus der Entschädigungssumme entgegengenommen zu haben. Und zwar als Belohnung dafür, daß er das Verfahren „gepusht“ hatte – Vorteilsannahme heißt das. Die kleinere Form von Korruption sozusagen. K. war bereits im August 1995 per Strafbefehl zu 4.900 Mark verurteilt worden. Dagegen hatte er Einspruch eingelegt.

Der Prozeß dauerte fünf Verhandlungstage. Am 7. Februar wurde K. erneut verurteilt. Das Gericht wertete seine Schuld noch höher. Da aber K.s Einkommen inzwischen niedriger ist, fällt seine Geldstrafe mit 2.700 Mark ebenfalls niedriger aus. Wenn allerdings nachgewiesen worden wäre, daß durch die Begünstigung Pietzners andere Antragsteller einen Nachteil gehabt hätten, sagte der Richter in seiner Urteilsbegründung, wäre K. wegen Bestechlichkeit verurteilt worden, der größeren Form der Korruption und dann hätte es eine Freiheitsstrafe (auf Bewährung) gegeben.

Dem Prozeß ist zu verdanken, daß der „Fall Pietzner“ und seine Umstände hell beleuchtet wurden. Er ist geradezu abenteuerlich: Er ist möglicherweise repräsentativ; und er wirft Fragen auf. Eine Hauptrolle spielt darin die Leiterin der Gedenkbibliothek für die Opfer des Stalinismus, Ursula Popiolek, die zusammen mit ihrem Mann von Margot Pietzner nach Auszahlung der Entschädigungssumme mit 15.000 Mark bedacht worden war. Außerdem bekam Popioleks Sohn 5.000 Mark. Pietzner sagte aus, bei einem Essen im privaten Kreis habe ihr Popiolek, die das Geld verwaltete, nachdem es bar abgehoben worden war, zwei 500-Mark-Scheine gegeben, die sie, Pietzner, dann dem Angeklagten K. zusteckte. Die Zeugenvernehmung Ursula Popioleks geriet zu einem ungewöhnlichen, nahezu peinlichen Auftritt. Zunächst stellte sie sich als „passive Oppositionelle“ zu DDR-Zeiten vor, sprach vom Fall Pietzner als einer Inszenierung, mit der die Gedenkbibliothek kaputtgemacht werden sollte und demonstrierte einmal mehr ihr gestörtes Verhältnis zur Öffentlichkeit, indem sie mehrmals versuchte, den Berichterstatter des Prozesses ausschließen zu lassen. „Ich möchte nicht, daß es morgen in der Zeitung steht und übermorgen haben wir einen Brandanschlag“, sagte sie in Anspielung auf einen nie geklärten Brand des Autos ihres Vaters, um schließlich den aufschlußreichen Satz zu sprechen, sie habe in den letzten zweieinhalb Jahren soviel durchmachen müssen, wie in den 40 Jahren der DDR nicht. Die Beschuldigungen Pietzners stritt Popiolek rundweg ab.

Das wird ein Nachspiel für sie haben. Sie habe schlicht und einfach gelogen, erklärt der Staatsanwalt in seinem Plädoyer und kündigte ein Strafverfahren wegen Falschaussage vor Gericht an.

Margot Pietzner hat etwa 40.000 Mark ihrer Entschädigungssumme an alle möglichen Leute verschenkt. Einer der Beschenkten ist der Schriftsteller Siegmar Faust, damals ebenfalls in der Gedenkbibliothek engagiert, heute Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in Sachsen. Faust kennt Pietzner seit 1991. Ihr Fall war im „Dokumentationszentrum zur Aufklärung von SED-Verbrechen“, wo Faust arbeitete, dokumentiert, und Faust benannte Pietzner als Rehabilitierungsfall gegenüber einer Anwaltskanzlei, die ihn dann kostenlos vertrat. Nach Auszahlung der Summe erhielt Faust von Pietzner 7.000 Mark als Geldgeschenk. Pietzner habe ihm das Geld einfach zugesteckt, sagte er vor Gericht. Ein Detail, das sich mit der Geldübergabe im Falle des Angeklagten K. deckt. Er habe das Geld bisher nicht angerührt, behauptet Faust. Aber auch sein Auftreten hatte Zweifelhaftes. Warum sagte er, als der Staatsanwalt ihn fragte, warum er das Geld nicht an Pietzner zurückgegeben habe, der Fall sei ja noch nicht abgeschlossen, Pietzner habe ja dagegen geklagt? Woher wollte Faust das wissen beziehungsweise warum behauptet er das, obwohl das Gegenteil der Fall ist? Pietzner hat die Rücknahme ihrer Rehabilitierung und die Rückforderung des Geldes sofort akzeptiert. Will Faust das Geld doch behalten? Will er verhindern, durch eine Rückgabe sozusagen politisch quittieren zu müssen, daß Pietzner zu Unrecht entschädigt worden war, also auch sein Verhalten zu verurteilen ist? Immerhin erklärte Faust im Zeugenstand erneut, Pietzner habe eine Entschädigung verdient, vielleicht nicht in dieser Höhe und vielleicht nicht nach dem SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, aber sie sei doch ein Stalinismus-Opfer gewesen.

Der Prozeß ergab, daß es im Rehabilitierungsverfahren nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Obwohl Wolf-Dietrich K. innerhalb der Stiftungsbehörde gar nicht für den Fall Pietzner zuständig war, ist er es gewesen, der die offiziellen Antragsformulare an Pietzner verschickte. Er benutzte dazu das Dienststellenkennzeichen des eigentlich zuständigen Sachbearbeiters. Und er erfand einen Telefonanruf eines Wittenberger Pfarrers, der mitgeteilt haben soll, Frau Pietzner gehe es sehr schlecht, ob sie nicht bald ihre Entschädigung bekommen könne. Der Antrag Pietzner sei durch K. „beschleunigt“ worden, erklärte der ehemalige Leiter der Berliner Stiftungsdienststelle, Peter Ziegler, vor Gericht. K. habe die Antragsformulare rausgeschickt, obwohl das entsprechende Gesetz gerade erst in Kraft getreten und überhaupt noch keine Ausführungsbestimmungen erlassen worden waren. Auch nach den drei Kriterien für die Reihenfolge einer Bearbeitung – Lebensalter, Haftzeit, Schwerbehinderung – hätte der Fall Pietzner frühestens ein halbes Jahr später bearbeitet werden dürfen. „Sie war noch nicht dran“, so Ziegler, „es gab Leute, die waren älter.“

Durch öffentliche Auftritte des Vorstandsvorsitzenden der Stiftung, Roland Bude, in der Vergangenheit – zum Beispiel auf einer Mitgliederversammlung des Fördervereins der Gedenkbibliothek am 9. 1. 1995 – ist allerdings belegt, daß die Stiftung von der „Beschleunigung“ des Verfahrens Pietzner wußte, sie sogar guthieß. Bude hatte sich damals auch bedingungslos vor seinen Mitarbeiter K. gestellt. Heute distanziert er sich von ihm. K. ein Stündenbock? Um seinen Kopf zu retten, wurde er jedenfalls vor Gericht gesprächig und erzählte unter anderem, daß der Stiftungsvorsitzende Bude gute Kontakte zur Leiterin der Gedenkbibliothek, Popiolek, pflegte. Daß auch K. Mitglied der Gedenkbibliothek ist, unterstreicht nur die Zusammenhänge.

Geklärt wurde durch den Prozeß, daß es Ursula Popiolek war, die Pietzners Antrag, der postwendend – binnen zwei Tagen – zur Stiftung zurückkam, ausgefüllt hatte. Pietzner hatte nur unterschrieben. Nach Bekanntwerden des Falles, Anfang Dezember 1994, hatte Popiolek öffentlich erklärt, sie sei „weder an der Vermittlung des Rechtsanwaltes noch an dem Antragsverfahren auf Haftentschädigung beteiligt“ gewesen. Daß sie es tatsächlich war, konnte sie mehr als zwei Jahre lang erfolgreich verschleiern. Verständlich, warum sie nicht im Beisein des Berichterstatters vor Gericht aussagen wollte. Anfang April 1993, vier Wochen später, war die Summe ausgezahlt. Margot Pietzner gehörte zu den ersten, die eine Entschädigung bekamen; sie stand auf der sogenannten „Sammelliste Nr. 1“. Bis zu diesem Zeitpunkt wohnte Margot Pietzner privat bei Familie Popiolek, danach kam sie in ein Altenheim und es begann das Zerwürfnis Pietzners sowohl mit Popioleks als auch mit Faust. Pietzner forderte nun die 20.000 Mark von Popiolek zurück, die jedoch weigerte sich. Eine Betreuerin Pietzners berichtete das im Prozeß.

Der Fall Pietzner hat eine politische Dimension. Da ist zunächst das entsprechende Rehabilitierungsgesetz, das 1992 beschlossen wurde und das DDR-Oppositionelle zusammen mit Kriegsverwickelten, die möglicherweise NS-belastet sind oder auch mit BND- Mitarbeitern, die in der DDR inhaftiert waren, in einen Topf wirft.

Da ist dann die Stiftung für ehemalige politische Hälftlinge, die die Rehabilitierungsverfahren bearbeitet und entscheidet und die den Fall mehr als fragwürdig behandelt hat. Obwohl die SS-Vergangenheit Pietzners bekannt war, wurde weder in der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg noch im Simon-Wisenthal-Center in Wien noch bei der Gauck-Behörde in Berlin nach Unterlagen über sie nachgeforscht. Erst nachdem das Verfahren positiv beschieden und die Summe von 64.000 Mark ausgezahlt war, es aber zu öffentlichem Protest gekommen war, holte man das nach und nun fanden sich unter anderem in der Gauck-Behörde doch belastende Unterlagen. Die Stiftung hatte Pietzner aufgrund ihrer eigenen Aussage rehabilitiert, sie sei zur SS dienstverpflichtet gewesen sowie aufgrund der Tatsache, daß sie von einem sowjetischen Militärtribunal verurteilt worden war. Daß diese Tribunale alles andere als rechtsstaatlich waren, wurde genommen, um sozusagen im Umkehrschluß Pietzner für unschuldig zu erklären. Michael J., jener Sachbearbeiter, der in der Stiftung für das Verfahren Pietzner zuständig war und der ihr die sogenannte 10/4-Bescheinigung nach dem Häftlingshilfegesetz (§ 10, Abs. 4 HHG) ausgestellt hatte, mit der Pietzner als politischer Häftling anerkannt wurde, sagte vor Gericht aus, die Recherchen hatten allgemein in der Reihenfolge zu geschehen gehabt, erst nach einer möglichen Stasi-Verstrickung zu forschen und dann eine NS-Verwicklung zu überprüfen. „Mein Gefühl war“, sagte der ehemalige Sachbearbeiter, der zweieinhalb Jahre in der Stiftungsbehörde arbeitete, wörtlich, „was die Frage des Dritten Reiches anging, eher ein Auge zuzudrücken und nicht so ins Detail zu gehen als in Bezug auf die DDR-Zeit.“ Zu diesen Fragwürdigkeiten paßt die Personalpolitik innerhalb der Stiftungsbehörde. Dort wurden für Verwaltungsaufgaben fast ausschließlich unausgebildete Leute eingestellt: ein Elektroingenieur, eine Schriftstellerin, K. war Kellner. „Ein kunterbunter Haufen“, der da mit hoheitlichen Aufgaben, dem Auszahlen hoher Geldsummen, beauftragt war. Der Richter kommentierte das mit Kopfschütteln.

Schließlich spielte – drittens – auch das Bundesjustizministerium eine zwielichtige Rolle. Nach der ersten öffentlichen Kritik stellte es sich vor die Stiftung und erklärte, abgesegnet von Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger, der Fall Pietzner sei korrekt behandelt, die Entschädigung zu Recht gezahlt worden. Das Ministerium verbreitete dies, obwohl gerade erst die Gauck-Behörde mit Nachforschungen beauftragt worden war und deren Ergebnisse noch nicht vorlagen. Und noch ein weiteres Detail nährt den Verdacht, daß es sich bei den oberflächlichen Ermittlungen doch eher um Absicht als um Versehen gehandelt hat: So wurde Professor Wolfgang Scheffler vom Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin beauftragt, zu klären, ob Margot Pietzner freiwillig bei der SS Dienst getan hatte oder ob sie dienstverpflichtet worden war. Schefflers Ergebnis lautete: Die Frage lasse sich nicht klären, beides sei möglich. Trotz dieser Aussage behauptete das Justizministerium in einem entsprechenden Papier wenige Tage später, Frau Pietzner sei nicht freiwillig in die SS eingetreten, sondern dienstverpflichtet worden. Anderthalb Jahre später wurde der Fall dann doch anders geklärt: Frau Pietzner wurde nachgewiesen, daß sie Häftlinge im KZ mißhandelt hatte; die Rehabilitierung als politischer Häftling wurde rückgängig gemacht; Reste ihrer Entschädigungssumme wurden eingezogen. Nach all diesen Ungereimtheiten drängt sich die Frage auf: Gibt es noch mehr „Pietzner-Fälle“?

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