■ Das Elend der forensischen Psychiatrie: psychisch kranke Straftäter brauchen gänzlich neue Behandlungskonzepte: Behandlung ist möglich, Heilung nicht
Der elektrisierende Gedanke der letzten großen Strafrechtsreform lag unter anderem in der Hoffnung, auch jene durch Resozialisierungsmaßnahmen heilen zu können, die von sich aus niemals psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nähmen. Milieubedingte Traumatisierungen – den Betroffenen nicht als Ursache ihrer zahlreichen psychosozialen Konflikte bewußt – sollten behandelt und damit sozialen Randgruppen die Rückkehr in die Gesellschaft ermöglicht werden. Doch zwei Jahrzehnte später wirft die emotionalisiert geführte Debatte um pädophile Straftäter die Frage nach den Grenzen des Maßregelvollzugs, der Zwangsbehandlung in forensischen Einrichten, auf.
Es gilt, mit einer Reihe von Mißverständnissen aufzuräumen. Wer psychotherapeutische Hilfe aufsucht, hat gewöhnlich Leidensdruck, spürt Ängste, Scham und Schuldgefühle. Ganz anders ist die Situation bei psychisch kranken Straftätern. Innere Spannungen und äußere Konflikte, eigene Ängste und Nöte werden in Handlungen verwandelt – aggressive Taten zumeist, die sich gegen hilflose Opfer richten. Regelmäßig fehlen Gefühle von Betroffenheit, Scham oder Schuld wie auch Einfühlung in die Opfer. Damit entbehren die meisten psychisch kranken Straftäter – zur Therapie verurteilt, aber deswegen noch lange nicht zu ihr motiviert – aller anerkannt günstigen Prognosekriterien.
Das Bild vom Triebtäter ist eine Wunschvorstellung der Delinquenten. Gerne geben sie sich ein Image, das über ihre Identitätsprobleme und ihre extreme psychische Zerbrechlichkeit hinwegtäuschen soll. Bei ihren Taten geht es vor allem um die Bestätigung des lädierten Selbstwertgefühls. Die Erfahrung, über ein hilfloses Opfer verfügen zu können, hilft, über Kränkungen und Alltagskonflikte hinwegzukommen. Chemische oder chirurgische Kastrationen helfen daher wenig.
Einigermaßen verläßliche Angaben über Rückfallquoten sind kaum möglich. Nur polizeilich erfaßte Wiederholungstaten gehen überhaupt in die Statistiken ein. Für die Gruppe der Pädophilen gilt: „Ist der Abstand zwischen Behandlung und Nachuntersuchung hinreichend lang, läuft es fast darauf hinaus, daß praktisch alle rückfällig werden.“ Das sagt der niederländische Psychologe Daan van Beek von der renommierten Henri-van-der-Hoeven-Kliniek in Utrecht. Eine wirkliche Heilung des Bedürfnisses, bei Kindern Entlastung von drängenden psychischen Spannungen zu finden oder mittels einer Vergewaltigung aggressiven Konfliktspannungen Ausdruck zu verleihen, erscheint jedoch kaum möglich. Therapeutisch strebt man daher in Utrecht eher den Verzicht des Täters auf seine fortbestehenden Wünsche an. Im Vordergrund stehen die soziale Integration des Täters, die Fähigkeit, mit Konflikten umzugehen und die verfügbaren Alltagskompetenzen.
Die psychotherapeutische Aufarbeitung schwerer Gewalttaten stellt eher eine Illusion der Behandler dar. Es ist schon kaum vorstellbar, daß eine einigermaßen stabile und gesunde Person den Mord an einem Kind oder eine Serie schwerer Vergewaltigungen in ihr Selbstbild integrieren könnte, ohne daran zu zerbrechen. Umso illusionärer ist es, dies von psychisch Kranken zu erwarten.
Sozialtherapie, Förderung von Alltagskompetenzen, Schul- und Berufsausbildung stabilisieren und helfen, gewaltfördernde Unterlegenheitsgefühle nach der Entlassung zu vermeiden. Eine Behandlung ist also sinnvoll – Gefängnis oder höhere Strafen führen nur weiter in die Spirale von Scham und Gewalt.
Im Umgang mit Restriktionen gibt es im gerne als liberal verklärten Holland erheblich weniger Bedenken. Dort wundert man sich häufig über die Behandlungsmethoden deutscher Kollegen. In den Niederlanden glaubt man mehr, daß kleine Schritte zur Wiedereingliederung unter strikter Kontrolle die größten Risikobegrenzungen ermöglichen.
Deutsche Vergangenheit und die Befürchtung, Beifall von der falschen Seite zu bekommen, lassen hierzulande an therapeutischen Konzepten festhalten, die keineswegs den angestrebten liberalen Straf- oder Maßregelvollzug gewährleisten: Die Idee, jeder psychisch Kranke könne nach einer Zeit der Bewährungsauflagen und Führungsaufsicht wieder mehr oder weniger selbständig leben, führt zu fatalen Drehtüreffekten. Kaum aus der engeren Kontrolle – oder besser des sicherheitsspendenden Netzwerkes therapeutischer Begleitung – entlassen, werden zahlreiche Täter erneut instabil, drohen rückfällig zu werden.
Ist es wirklich sinnvoll, zahlreiche psychisch kranke Straftäter mit schweren Gewaltdelikten nach dem juristischen Prinzip der Verhältnismäßigkeit selbst bei schlechter Prognose zu entlassen, obwohl keine Heimplätze zur Verfügung stehen? Wäre es nicht humaner zu akzeptieren, daß schwer traumatisierte Patienten häufig lebensbegleitender Netzwerke bedürfen, die ein hohes Maß an Kontrolle beinhalten? Zu recht kann man fragen, ob die Traumatisierungen der aggressivsten und gefährlichsten psychisch kranken Straftäter nicht durch frühzeitige Interventionen von Jugend- und Sozialämtern und einer Politik gegen soziale Verelendung hätten verhindert werden können. Doch das erwachsene Opfer ist oft längst zum Täter avanciert.
Jenseits der Rufe nach höheren Strafen stellt sich die Frage, wie mit psychisch schwerkranken Straftätern umzugehen ist. Patienten, deren Traumatisierungen sich allzu häufig einer Aufarbeitung entziehen, benötigen oft lebensbegleitende, engmaschige sozialtherapeutische Netze. Notwendig ist die Möglichkeit zeitlich unbegrenzter Führungsaufsicht, benötigt werden Heimplätze für die verschiedenen Gruppen psychisch Kranker, speziell ausgebildete Bewährungshelfer, die nicht wegen Totalüberlastung erste Alarmzeichen ignorieren. Und es braucht die Möglichkeit, Patienten in Krisen schnell hospitalisieren zu können. Werden die Möglichkeiten nicht geschaffen, riskiert man den Erfolg aller Resozialisierung. Wir werden uns damit abfinden müssen, daß nicht alle so sind wie wir – oder wie wir sie gerne hätten. Die Alternative, entweder Sicherheitsverwahrung oder forensische Psychiatrie mit beinahe zwangsläufigen Entlassungsperspektiven, ist unsinnig. Wer psychisch krank ist, gehört nicht in Sicherheitsverwahrung. Doch wer als Kranker vermutlich sein Leben lang für sich und andere eine Gefahr darstellt, gehört nicht in ein Gefängnis, sondern in eine Psychiatrie, in der er unter den gegebenen Umständen ein einigermaßen lebenswertes Leben führen kann. Micha Hilgers
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