: Koalition will auf Haushaltssperre verzichten
■ Bündnisgrüne rechnen mit 24 Milliarden, SPD mit zehn Milliarden Mark Defizit
Bonn (taz) – Die Rekordarbeitslosigkeit von 4,6 Millionen Menschen war gerade öffentlich bekanntgegeben worden. Bundesfinanzminister Theo Waigel gab der ARD ein Interview. Auf die Frage, ob durch die unerwartete Arbeitslosigkeit die Haushaltsberechnungen nicht ad absurdum geführt seien, antwortete er trotzig: „Mit diesen Zahlen haben wir gerechnet.“ Im vergangenen Jahr behauptete er dies ebenso. Das Ende vom Lied: Waigel mußte 16,7 Milliarden Mark mehr für die Arbeitslosen ausgeben, als er im Haushalt 1996 eingeplant hatte. Für dieses Jahr sehen die Bündnisgrünen ein Defizit von 24 Milliarden und die SPD von mindestens zehn Milliarden voraus. Die SPD wird diese Woche einen Nachtragshaushalt beantragen.
Waigel hat für den Haushalt 1997 die Arbeitslosenzahl aus dem Vorjahr zugrunde gelegt, also 3,95 Millionen. Zudem hat er wie im letzten Jahr rund 22 Milliarden Mark als Kosten der Arbeitslosigkeit eingeplant. Nach Auffassung des haushaltspolitischen Sprechers der Bündnisgrünen, Oswald Metzger, muß daher wieder von einem Defizit von mindestens 16 Milliarden Mark ausgegangen werden. Dazu kommen acht Milliarden Mark Mehrkosten durch den für 1997 prognostizierten Anstieg der Arbeitslosigkeit. Zudem verursacht die Arbeitslosigkeit Steuerausfälle von rund zwei Milliarden Mark.
Rekordarbeitslosigkeit, Rekordschuldenstand, Rekordsteuerlast. Unter diesen Bedingungen will die Bundesregierung auch noch eine Steuerreform mit einer Nettoentlastung um 30 Milliarden durchführen sowie die Maastricht- Kriterien für die Einführung des Euros einhalten. „Eigentlich“, sagt der haushaltspolitische Sprecher der Bündnisgrünen, Oswald Metzger, „müßte Theo Waigel sagen, ich bin mit meinem Latein am Ende.“
Auf eine Haushaltssperre will die Koalition jedenfalls verzichten, weil dies zu 90 Prozent die Investitionen treffen würde. Dies wurde gestern nach einer Gesprächsrunde der Koalition unter Vorsitz von Helmut Kohl bekannt. Die Koalition appellierte erneut an die Tarifparteien, alle Möglichkeiten zu nutzen, um die Beschäftigung zu steigern und damit die Kosten der Arbeitslosigkeit zu verringern. Aus dem Umfeld der CDU-Haushaltspolitiker hieß es zudem, daß drastische Sparmaßnahmen beschlossen werden müßten. Die Koalition hat dabei offenbar vor allem die Sozialausgaben im Visier. So wird darauf verwiesen, daß die Sozialausgaben in den letzten sechs Jahren um 44 Prozent gestiegen, aber alle anderen Ausgaben des Bundes bis auf die Zinsen um zehn Prozent zurückgegangen seien. Ferner setzt die Koalition auf ein Kürzungsvolumen von etwa vier Milliarden Mark, daß von der Opposition bisher verhindert wurde. Betroffen sind unter anderem Mittel für Fortbildung, Umschulung und ABM.
Der haushaltspolitische Sprecher der SPD, Karl Diller, hält diese Einsparungen für kontraproduktiv. Die eingesparten Gelder müßten in Form von Arbeitslosengeld- oder hilfe später ohnehin wieder ausgegeben werden. Im März 1995 hatte Diller das Haushaltsdefizit für 1996 richtig auf 20 Milliarden Mark geschätzt. Für 1997 geht er von einem Defizit von mindestens zehn Milliarden Mark aus. Die SPD halte daher einen Nachtragshaushalt für unabdingbar. Ein solcher müßte anders als eine Haushaltssperre vom Bundestag, also unter Mitwirkung der Opposition, beschlossen werden. Außerdem können gesetzlich beschlossene Ausgaben verändert werden. Diller setzt zur Beseitigung des Haushaltsdefizits vor allem auf Maßnahmen wie etwa die Förderung von Teilzeitarbeit, den Abbau von Überstunden und andere Maßnahmen. Den Beteuerungen der Koalition, auf eine Haushaltssperre zu verzichten, glaubt er nicht. „Die Haushaltssperre kommt am 3. März, einen Tag nach den Kommunalwahlen in Hessen.“ Im vergangenen Jahr habe Waigel extra noch die bayerischen Kommunalwahlen abgewartet. Markus Franz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen