: Vor der Kapitulation
■ In Nord-Korea gehen die Kader in Rettungsboote
„Feiglinge, wenn ihr gehen wollt, geht. Wir werden die rote Fahne der Revolution bis zum Ende verteidigen“, hat der „Geliebte Führer“ Kim Jong Il gestern übers Radio verkündet. Hohler kann Propaganda nicht sein. Schon einmal hat ein Regime durch Denunziation von Flüchtlingen versucht, seinen Untergang zu verhindern. Das Ergebnis ist jetzt in Ostberlin zu besichtigen. In den Ohren der Regierungen in China und Süd-Korea muß die Nachricht jedoch zunächst wohltönend klingen: Nord-Korea scheint bereit, den in der südkoreanischen Botschaft in Peking festsitzenden Überläufer Hwang Jang Yop laufenzulassen. Für Seoul ist das Angebot allerdings zweischneidig: Was, wenn sich viele „Feiglinge“ dazu entschließen, Kim Jong Il an der Fahnenstange alleine stehen zu lassen, und die hungrigen nordkoreanischen Soldaten den Flüchtlingen nicht hinterherschießen, sondern mitrennen?
Eine Massenflucht aus Nord-Korea gehört zu den Horrorszenarien, welche die Politiker im Süden nach Kräften vermeiden wollen. Bei den geheimen Verhandlungen zwischen den beiden Koreas und China pokern die Diplomaten und Geheimdienstler um den Preis, für den Nord-Korea den „Feigling“ Hwang ziehen läßt. Der „liebe Führer“ wird sich sein Entgegenkommen teuer bezahlen lassen. Ihm könnte aber auch klargeworden sein, daß Hwangs Flucht in Peking eine lebensgefährliche Gefahr für ihn darstellt. Denn ZK- Mitglied Hwang ist womöglich Vorbote einer Fraktion der Arbeiterpartei, die das Ende der nordkoreanischen Revolution für gekommen hält und möglichst günstige Kapitulationsbedingungen für sich herausschlagen will. Diese Spekulation würde auch erklären, warum Hwang in Peking abgesprungen ist – und nicht in Japan, wo er noch kürzlich im Auftrag der Partei zu Besuch war und von wo er viel einfacher nach Seoul gelangt wäre: Nur die chinesischen Politiker könnten bereit sein, sich gegenüber dem Westen zugunsten der Stalinisten aus Pjöngjang einzusetzen und ihnen zu helfen, den Preis für ihre Aufgabe hochzutreiben. Die nordkoreanischen Politiker träumen wohl von einer Amnestie und einem sicheren Altersruhesitz, weitab von rachsüchtigen Nordkoreanern, die unter ihrer Herrschaft in den revolutionären Gürtel immer neue Löcher bohren mußten. Jutta Lietsch
Reportage Seite 8
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