■ Deutscher Herbst: Die Aktion Spindy
Kein Ereignis hat die Nachkriegsgeschichte der alten Bundesrepublik so geprägt wie die Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer im Herbst 1977 durch Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF). Die wollte damals mit der Aktion inhaftierte GesinnungsgenossInnen freipressen. Über Wochen war der Rechtsstaat suspendiert, die Gesellschaft erstarrt; die Medien unterwarfen sich freiwillig der Selbstzensur. Der „Deutsche Herbst“ war in jeder Hinsicht ein Superlativ.
Der frühere Oberstaatsanwalt bei der Karlsruher Bundesanwaltschaft, Klaus Pflieger, hat die Wochen nun rekonstruiert und ein neues Buch über den Deutschen Herbst vorgelegt. Er nimmt für sich in Anspruch, neue Erkenntnisse vorzulegen: über Schleyers Entführung, die anschließende Kaperung des Urlauberflugzeugs „Landshut“, die darauffolgende Befreiungsaktion der Eliteeinheit GSG-9 in Mogadischu, die Ermordung Schleyers und die im Hochsicherheitstrakt von Stuttgart- Stammhein später tot aufgefundenen RAF-Mitgliedern Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan- Carl Raspe.
Pflieger war der Koordinator der Anklage gegen die RAF-Mitglieder Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar. Mit Werner Lotze vernahm er den ersten der in der DDR aufgespürten RAF-Aussteiger. Von März bis Mai 1992 lauschte er der Lebensbeichte von Peter-Jürgen Boock, der selbst an der Schleyer-Entführung beteiligt gewesen war.
Sein Buch trägt den Titel „Die Aktion Spindy“. Spindy, so nannte die RAF ihren Gefangenen Schleyer, den sie in den ersten Tagen der Entführung in einem Wandschrank eingesperrt hatten. Betont sachlich referiert Pflieger die von ihm präsentierten Fakten, verzichtet auf die verbale Überzeichnung seiner einstigen Gegner. Doch so seriös das Werk daherkommt, es ist nicht seriös. Konsequent hat sich Klaus Pflieger auf den 157 Seiten der staatlichen Lesart der Ereignisse verschrieben. Bei einem ehemaligen Staatsanwalt wahrscheinlich nicht überraschend. Für den Leser ist es aber eine Zumutung. So wird nicht einmal erwähnt, daß jahrelang ein Großteil der Linken – und nicht nur deren militanter Teil – davon ausging, daß die in Stuttgart inhaftierten Baader, Ensslin und Raspe in ihren Zeller ermordet wurden. Auch wenn es Selbstmord war, wie Pflieger behauptet: Die These vom Mord hatte so weitreichende Konsequenzen, daß eine seriöse Geschichtsschreibung an ihr nicht vorbeikommt. Und an anderer Stelle wird in dem Buch noch vor dem Ende der gegenwärtig laufenden Prozesses gegen Monika Haas deren Mittäterschaft an der Landshut-Entführung schlicht unterstellt. Das hat Tradition: Die Unschuldsvermutung gilt im Bereich der Terrorismusbekämpfung seit nunmehr beinahe drei Jahrzehnten nur wenig.
Am Ende des Buches macht sich Pflieger Gedanken, ob es stimme, daß es die RAF als terroristische Organisation heute nicht mehr gibt. Er warnt vor dieser Annahme, obgleich er nicht (wie viele seiner früheren Kollegen) in den Schützengräben der alten Konfrontation mit dem politische motivierten Terror der RAF verharrt. So gesehen ist das Buch schon ein kleiner Fortschritt. Wolfgang Gast
Klaus Pflieger: „Die Aktion Spindy“. 157 Seiten, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1997, 38 DM
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