: „Larry Flynt – Die nackte Wahrheit“ von Milos Forman (USA) hat auf dem Berliner Filmfestival den Goldenen Bären gewonnen. Bedenklich ist, daß etliche Filme noch während des Festivals in die Kinos kamen – somit ein hoch subventioniertes Festival als Billig-PR benutzt wird. Aus Berlin Mariam Niroumand
Wie Marguerita mit Salzkruste
Auf dem roten Samtweg zum Pressecounter war in diesem Jahr erstmalig ein Computer mit Internetzugang postiert, der es einem ermöglichte, versäumte Pressekonferenzen gegebenenfalls nachzusichten. Eine Million Leute haben weltweit von diesem Angebot Gebrauch gemacht. Die französische Tageszeitung Le Monde scheint also mit ihrer Forderung nach Einstellung der Berlinale nicht ganz im Trend zu liegen; sie behauptete, das Berliner Filmfest habe seine Lebensberechtigung als Ost-West-Drehscheibe mit Vereinigung eingebüßt. 3.000 unzufriedene Journalisten, 300.000 offenbar fanatische Besucher, die auch die letzte Vorführung der Retrospektive noch zum Platzen bringen – was geht da schief?
In den letzten Jahren, in denen der Wettbewerb mit Filmen wie „Sense and Sensibility“, „Nixon“ oder früher dem „Hochzeitsbankett“ und einem Verträglichkeitsrisiko wie Alain Resnais' „Smoking/ No Smoking“ aufwarten konnte, hatte nicht nur die taz die Berlinale gegen die berufsmäßig produzierte schlechte Laune verteidigt. In diesem Jahr war die Stimmung auf den Gängen aber allenthalben eine, die jeden Festivalleiter vor Schreck erstarren lassen müßte: nicht Ärger, nicht Spannung, sondern wabernde, schallisolierte Gleichmütigkeit, die nur selten in aggressive Ausbrüche mündete. Besonderen Unmut hatte aber die Tatsache hervorgerufen, daß etliche Filme noch während der Berlinale in deutschen Kinos zu sehen waren, ein hoch subventioniertes Festival also als Billig-PR benutzt wird.
Natürlich war es bei etlichen Filmen völlig angemessen, sie einzuladen: Milos Formans Porträt des Hustler-Herausgebers „Larry Flynt“ verschweigt zwar die Herzensnähe zwischen christlichem Fundamentalismus und prüdem Brutalsex, ist aber trotzdem ein lebhaftes Plädoyer geworden, was die Jury nun auch mit dem Goldenen Bären prämiert hat. Daß Courtney Love, der diese Lebendigkeit im wesentlichen zu verdanken ist, leer ausgehen mußte und statt ihrer Juliette Binoche den Preis für die beste Darstellerin bekam, gehört zu den Gemeinheiten, die einen Menschen alt und runzlig machen. Auch Spike Lees „Get on the Bus“, ein lustiges, in klasse Südstaatenfarben leuchtendes Lehrstück über den Marsch auf Washington im Oktober 1995, wird offenbar von den Leuten, für die er gemacht ist, verschmäht; schwarze Jugendliche ziehen Eddie Murphy vor. Kein Grund der Welt, warum weiße Frau und weißer Mann sich nicht an ihrer Stelle über die verschiedenen Sprecherpositionen in der schwarzen Community auf dem laufenden halten sollten.
Nicholas Hytners Verfilmung von Arthur Millers „Hexenjagd“ läßt sich umstandslos als phänomenologische Studie über alle Formen von „unsichtbarer Schuldhaftigkeit“ lesen, wie sie ja auch in den aktuellen Auseinandersetzungen um sexuellen Mißbrauch vorkommt. Und schließlich einen Tusch für Baz Luhrmann, den Australier, der „Romeo und Julia“ in Hawaiihemden, zwischen mexikanischen Palmen, Swimmingpools und aus Wachsgesichtern weinenden Madonnen in sengender Hitze plaziert hat. Zwar geht die Rechnung mit dem Shakespeare- Englisch als Slang, in dem Romeo seinen Mercutio „Coz“ nennt (für Cousin) nicht immer auf, aber das Ganze perlt köstlich wie ein Marguerita mit Salzkruste.
Sogar der deutsche Wettbewerbsbeitrag „Das Leben ist eine Baustelle“ von Wolfgang Becker wurde erleichtert beklatscht; immerhin endete die Liebesgeschichte zwischen dem blassen netten Kerl und der zwischen Geheimnis und Grübchen changierenden jungen Dame in glücklicher Schlittschuhfahrt – auch wenn mitunter etwas viel Sozialkitsch in Form eines in die Ravioli gestürzten vernachlässigten Vaters stattfand und es mit dem Hineingeheimnissen vielleicht etwas weit getrieben wurde (angestrengt sagt sie irgendwann zu ihm: „O.k., erklär du mir deins, dann erklär' ich dir meins...“).
Was diese Berlinale so ermüdend machte, das war die ständige Konfrontation dicker Brocken wie „Der englische Patient“ – eine dickflüssige Wüstenaffäre, die den Krieg als Heizlüfter für ihre völlig uneinsichtigen Paarkombinationen benutzt – mit anämisch wirkenden kleinen Sachen aus Asien. Erstere – dazu gehört auch die komplett uninspirierte Bestsellerverfilmung „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ oder Richard Attenboroughs „In Love and War“ – kommen so pompös daher, daß neben ihr Regisseure wie Yim Ho mit seinem Film „Die Küche“, die ihre Angelegenheiten etwas subtiler abhandeln wollen, sofort zu klein geraten wirken.
Dieser Kontrast entsteht nicht aus dem Gegensatz zwischen Hollywood und dem Rest der Welt. Er entsteht, wenn bei der Auswahl nicht darauf geachtet wird, daß die Filme irgendwie auf einem Qualitätsniveau „miteinander sprechen“, sondern wenn das Kriterium mal „Asien“ und dann wieder „Sandra Bullock“ heißt. Aber das ist tough luck und durch ein „Konzept“ – etwa mehr Autorenfilm – nicht zu beheben.
Wenn der Wettbewerb ein Publikum hat, hat das Forum eine Gemeinde. Es sind Verschworene, die noch lange nach Mitternacht in Langzeitdokumentationen wie „Wie ist es mit dem Schmerz, Afrika“ von Raymond Depardon, in Barbara und Winfried Junges ostdeutscher Chronik der Kinder aus Golzow, „Da habt ihr mein Leben“, in Fred Kelemens fast fünfstündigem „Frost“ oder schließlich in Ulrike Ottingers „Exil in Shanghai“ ausharren. Während Kelemen Landschaft am liebsten in barocken Untergangstableaus einfriert, hat Ottinger wirklich etwas erfahren: was Wiener Caféhauskultur in Shanghai bedeutete, welche Schlager Leute aus Breslau mitbrachten, daß man nicht „Ghetto“ sagte, als die Japaner die frisch Assimilierten in einem viel zu engen Stadtteil segregierten, oder wie laut und glücklich das Jahr 1946 von Shanghais Juden gefeiert wurde.
Wie geht es weiter? Festivalleiter Moritz de Hadeln bleibt uns einstweilen erhalten, Forum-Chef Ulrich Gregor aber auch, und beide werden also dabeisein, wenn der ganze Laden dereinst an den Potsdamer Platz umzieht, wovon man sich eine Metropolisierung und Internationalisierung erhofft. Schon möglich, daß sich die Konkurrenzsituation zwischen den Sektionen Wettbewerb, Panorama und Forum noch zuspitzt, was uns nur recht sein kann. De Hadeln war zögerlich mit seiner Begeisterung für diesen Umzug; schließlich ist noch gar nicht abzusehen, daß es am Potsdamer Platz wirklich so stadtmittig zugehen wird, wie sich die Planer das so denken. Das Leben ist eine Baustelle: Die 300.000 wird das nicht schrecken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen