■ Nachschlag: Jahrmarkt schwarzer Pädagogik: „Woyzeck(en)“ frei nach Büchner
Georg Büchner, der Revolutionär, hätte sicher gern an die ethische Bildbarkeit des Menschen geglaubt, allein der Medziner in ihm bezweifelte die Methoden, psychische Effekte in den Griff zu bekommen. Sein „Woyzeck“-Fragment nutzt das Theater RambaZamba zur Rache an der Sprache und der Geschichte, die die Ausgrenzung des Unvernünftigen vorbereitet. Sie fallen mit einem „Jetzt erst recht“ über die Kategorisierungen her und wenden die Reduktion auf das Körperliche in ein sinnenfreudiges Spiel. Dann sind wir eben bloß noch Fleisch und Lust und kriechen auf einen Haufen. Die Zuschauer, die in zwei Reihen rund um die Spielfläche sitzen, dürfen teilhaben an einer ungewohnten Energie.
Die Woyzecken, die sich in dieser Inszenierung für geistig Behinderte und andere Spieler vervielfachen, stromern über den Jahrmarkt der schwarzen Pädagogik, wo Sozialutopien den Menschen notfalls mit der Guillotine erziehen wollen und die Anthropologen Jagd auf unverbildetes Material machen. Dort wird vor dem johlenden Publikum Woyzecks Dressur ebenso wie die eines zivilisierten Affen vorgeführt. Wenn im anatomischen Theater die Fetzen fliegen, unterscheidet sich die grausame Lust des Doktors an der Zergliederung des Menschen nur noch durch ihre Eitelkeit von Woyzecks späterer Mordlust.
Marie (Alice Kaufhold) und Woyzeck (Joachim Neumann) spielen Vater-Mutter-Kind. Allein das kleine Glashaus, in das sie dazu kriechen, verrät die Zerbrechlichkeit der Idylle. Später wird Marie diese Wände zusammenschieben für ihr heimliches Treffen mit dem röhrenden Tambourmajor. Man sieht ihre Liebe wie in einem Aquarium – wo die Sprache schrumpft, erzählen sinnliche Bilder weiter. Da ist es nicht mehr verwunderlich, wenn Woyzeck schwindelig wird: Die Grenze zwischen Normalität und Wahn wird zum schmalen Grat zwischen Selbstgewißheit und Angst ...
Kunst oder Therapie? Das Publikum jedenfalls profitiert von beidem, erhält es doch zu dem günstigen Eintrittspreis von 15 Mark zum Vergnügen zusätzlich die Chance, seine Berührungsangst gegenüber Behinderten abzubauen. Katrin Bettina Müller
„Woyzeck(en)“, RambaZamba im Theater im Pferdestall, Weitere Vorstellungen am 2.März, 19./20.April, 16 Uhr, Kulturbrauerei, Knaack-, Ecke Danziger Straße, Prenzlauer Berg
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