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Kriegsführung mit geographischen Daten

Wie weiter mit der palästinensischen Autonomie? Nach den bisherigen israelisch-palästinensischen Abkommen wird aus den selbstverwalteten Gebieten ein Reich weitverstreuter Inseln. Als unabhängiger Staat sind sie nicht lebensfähig. Doch unterdessen diskutieren Geographen und Politiker auf israelischer und palästinensischer Seite territoriale Alternativen zu diesem Vorhaben  ■ Von Karim El-Gawhary

Das Panorama von dem kleinen Friedhof des palästinensischen Dorfes Ras Karakar im Westjordanland zeigt die hügelige mediterrane Landschaft von ihrer besten Seite. Doch der Blick auf Zypressen und Olivenbäume erschließt auch die politischen Tatsachen, die in den letzten dreißig Jahren seit der israelischen Besetzung des Westjordanlandes geschaffen wurden und in den jetzt nahenden Endphaseverhandlungen über die palästinensische Autonomie auf die Tagesordnung rücken.

Zu dem von dem Friedhof auszumachenden guten Dutzend arabischer Dörfer hat sich seit dem Krieg im Jahr 1967 nahezu die gleiche Zahl jüdischer Siedlungen gesellt: fast alles Vororte des nur wenige Kilometer entfernten Jerusalems und unweit der grünen Linie gelegen – der Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland. Mit einem Blick, der bis an die eine halbe Autostunde entfernte Küste nach Tel Aviv reicht, gehören die Siedlungen zu den Filetstücken israelischer Siedlungspolitik: beste Lage mit exzellenten Verkehrsanbindungen zu allen wichtigen Ballungszentren Israels.

Mit dem Osloer Friedensprozeß haben sich Israelis und Palästinenser auf eine paradoxe Formel geeinigt: Schrittweise soll das Westjordanland unter palästinensische Autonomie gestellt werden, jedoch ohne vorläufig die jüdischen Siedlungen anzutasten. Seit Beginn des Prozesses vor mehr als drei Jahren hat Israel etwa 30 Prozent des Westjordanlandes mit allen größeren arabischen Ballungszentren – außer Ost-Jerusalem – den palästinensischen Autonomiebehörden unterstellt. 70 Prozent des Westjordanlandes sind bisher dagegen unter voller israelischer Kontrolle verblieben.

In dem vom israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und dem Chef der palästinensischen Autonomiebehörden und PLO-Vorsitzenden Jassir Arafat im Januar unterzeichneten Herbron-Abkommen verpflichtet sich Israel nicht nur – wie vor einem Monat vollbracht –, sich aus dem größten Teil der Stadt Hebron zurückzuziehen. Vereinbart wurde auch eine weitere Übergabe von Territorien in drei Stadien innerhalb von 18 Monaten nach Unterzeichnung des Abkommens. Am Ende dieser Periode sollen sich dann nur noch Jerusalem, die Siedlungen, Militäranlagen und das Gebiet zur Sicherung der Grenzen unter israelischer Kontrolle befinden.

Die Abkommen klingen eindeutiger, als sie sind

Doch das klingt eindeutiger, als es ist. So kam es unmittelbar nach der Unterzeichnung des Hebron-Abkommens zum Konflikt um Prozentzahlen. Laut Arafat müßten sich spätestens in 18 Monaten 85 Prozent des Westjordanlandes in den Händen der palästinensischen Autonomiebehörden befinden. Netanjahu spricht dagegen von 45 bis 50 Prozent. Für die erste Abzugsphase, die übermorgen beginnen soll, erwarten viele Palästinenser im Westjordanland nicht mehr als ein paar kosmetische Rückzugsgesten der israelischen Armee. In israelischen und palästinensischen Führungskreisen wurde dagegen in den letzten Tagen gemunkelt, Netanjahu hätte Arafat einen weitreichenderen Abzug in Aussicht gestellt – als Gegenleistung für dessen stillschweigende Duldung des Baus der neuen Siedlung Har Homa.

Die Ursache für die mathematischen Differenzen liegt schon in der Definition des Gebietes. Wie groß ist das Westjordanland abzüglich Jerusalem, der Siedlungen, Militäranlagen und des Streifens zur Sicherung der Grenzen? Die Größe der Siedlung Kiriat Sever unweit des Friedhofs von Ras Karkar ist schwer zu definieren. „Ist es das bebaute Areal, das Gebiet bis zum Sicherheitszaun oder das weitaus größere Gebiet bereits konfiszierten Landes, das für den Ausbau der Siedlung vorgesehen ist?“ fragt der palästinensische Geograph Chalil Kafakdschi. Wie ein geschlagener Feldherr beschreibt er von dem Gipfel eines von Israel konfiszierten Hügels die palästinensischen Niederlagen durch die israelischen Landbeschlagnahme der letzten Jahre. Es ist die Geschichte von 300 Kilometern nagelneuer Umgehungsstraßen zum ausschließlichen Gebrauch der Siedler und der israelischen Armee, von massiven Siedlungserweiterungen und vom Zuzug immer neuer Siedler. Denn, seit Unterzeichnung der Oslo-Abkommen wurden zwar keine neuen Siedlungen mehr gebaut, dafür aber die alten intensiv erweitert. Vor der Wahl Jitzhak Rabins zum israelischen Regierungschef im Jahr 1992 lebten etwa 95.000 Siedler im Westjordanland; heute sind es 145.000.

Ein Blick auf Kiriat Sever am Fuß des Hügels offenbart diese Politik. Die Erweiterungspläne sind an dem umgegrabenen Land und den entwurzelten Olivenbäumen rund um die jetzige Siedlung deutlich sichtbar. In einer Ziegelfabrik wird unter lautem Getöse das Material für bereits im Bau befindliche dreistöckige Siedlergebäude hergestellt. Am Ende der jetzigen Erweiterung wird das bebaute Areal von Kiriat Sever um das Dreifache gewachsen sein. Laut israelischer Planung, so Kafakdschi, sollen alle Siedlungen in der Umgebung später einmal zu einem Block zusammengefaßt werden und eine Viertelmillion Siedler hier ihr neues Zuhause finden.

Kafakdschi kann seinen Satz kaum zu Ende sprechen. So als wolle er unterstreichen, wer der wahre Herr über das Land ist, donnert ein israelischer Militärhubschrauber über den Kopf des Geographen. Israelische Helikopter sind ständige Begleiter von Kafakdschis Feldstudien.

Während Kafakdschi diese täglich vor Ort betreibt, beschäftigt sich der palästinensische Geograph Abdallah Said Abdallah mit höheren Dingen. In mühevoller Kleinarbeit wertet er im „Palästinensischen Geographischen Zentrum“ in der eine viertel Autostunde von Kiriat Sever gelegenen palästinensischen Stadt Ramallah Satellitenfotos aus. Das Zentrum, von EU-Geldern unterstützt, zeichnet neue Karten auf Basis französischer Satellitenbilder. In der Eingangshalle hängen die kartographischen Hochglanzfotos von nahezu jedem Flecken im Westjordanland und dem Gaza-Streifen. „Bisher mußten wir uns fast ausschließlich auf israelische Daten verlassen“, erklärt Abdallah. Die seien jedoch häufig manipuliert gewesen. Geographische Daten gelten als eine der wichtigsten Waffen in den zukünftigen Verhandlungen um Territorien. Um so verwunderlicher, daß zu Beginn der Osloer Verhandlungen fast nur israelische Daten als Verhandlungsgrundlage dienten.

Israel legte in Oslo manipulierte Zahlen vor

Laut einer Bestandsaufnahme des Zentrums umfaßt das bebaute Siedlungsgebiet nicht mehr als zwei Prozent des gesamten Territoriums im Westjordanland und dem Gaza-Streifen – Jerusalem ausgenommen. Das, so Abdallah, „ist die entscheidende Zahl, mit der wir bei den weiteren Verhandlungen operieren müssen“. Konfisziertes Land und Erweiterungspläne seien Dinge, die sich zumindest theoretisch politisch revidieren ließen. Doch: Was tun mit 145.000 Siedlern, ohne den politischen Willen auf israelischer Seite, auch nur eine einzige Siedlung aufzulösen?

Darauf versucht eine in der letzten Zeit entbrannte Diskussion über den endgültigen Status des Westjordanlandes eine Antwort zu finden. Auf dem Reißbrett entstehen die ersten Kompromißvorschläge. In einer eher akademischen Diskussion wird vorgefühlt, was in näherer Zukunft politisch machbar ist. Dabei machen sich die Pläne die Tatsache zunutze, daß die überwiegende Mehrheit der israelischen Siedlungen in der Nähe der grünen Linie liegen. So kristallisiert sich langsam die Idee heraus, die grüne Linie weiter nach Osten zu verschieben, weitere Teile des Westjordanlandes israelisch zu annektieren und im Gegenzug den zusammenhängenden Rest unter palästinensische Verwaltung zu stellen.

Die Grüne Linie soll nach Osten verschoben werden

Das erste Mal ausgesprochen wurde dieser Gedanke noch in der Zeit, als Schimon Peres das Amt des Ministerpräsidenten bekleidete. Die beiden „Vorfühler“, der ehemalige Minister Jossi Belin und der palästinensische Chefunterhändler Abu Masen, erarbeiteten im Oktober 1995 ein allerdings bisher nie vollkommen veröffentlichtes Arbeitspapier: den Abu-Masen-Belin-Plan. Danach sollten elf Prozent des Westjordanlandes entlang der grünen Linie Israel einverleibt werden. In dem Gebiet leben 70 Prozent der Siedler. Der Rest des Westjordanlandes sollte der palästinensischen Verwaltung unterstellt werden und als territoriale Grundlage für einen späteren palästinensischen Staat dienen. Die dort lebenden Siedler haben danach die Wahl, nach Israel zurückzukehren oder unter palästinensischer Verwaltung zu leben. Unklar blieb bei diesem Vorschlag allerdings das Schicksal des östlich gelegenen Jordantales, das sich bisher, von wenigen Ausnahmen abgesehen, immer noch unter vollständiger israelischer Kontrolle befindet.

Ähnliche Vorschläge zur Verschiebung der grünen Linie kamen auch aus dem „Jaffa Strategic Institut“, einem der wichtigsten israelischen „think tanks“. Im Januar dieses Jahres wurde die Idee schließlich im sogenannten Belin- Eitian-Plan wieder aufgenommen und in Teilen des in Israel regierenden Likud salonfähig gemacht – allerdings mit mehreren Zugeständnissen an den Likud rund um den Status der verbliebenen Siedler.

Für den Geographen Kafakdschi auf dem Hügel vor Kiriat Sever nimmt das Ganze bereits landschaftliche Formen an: „Nach dem Belin-Abu-Masen-Plan werden die Siedlungen rund um Kiriat Sever von Israel annektiert werden. Die grüne Linie läge dann hinter uns.“ Er dreht sich um und deutet auf einen imaginären Strich in der Landschaft in Richtung Osten, weiter im Inneren des Westjordanlandes gelegen, hinter der wiederherum – im Gegensatz zu den heutigen kleinen autonomen Inseln – ein zusammenhängendes Gebiet unter palästinensischer Verwaltung liegen würde. Für den Geographen Kafakdschi eindeutig ein Vorteil: „Kantone brauchen kein zusammenhängendes Territorium – für einen Staat ist es dagegen lebenswichtig.“

Aus palästinensischer Sicht sind derartige Gedankenspiele, die eine weitere Annexion ihres Landes beinhalten, alles andere als befriedigend, und dennoch gelten sie vielen als ein Schritt nach vorn. Selbst für Riad Malki, einem ehemaligen Mitglied der linken „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ und bis heute ein prominenter Gegner der israelisch-palästinensischen Abkommen, eröffnen derartige Gedankenspiele zumindest „der Kreativität neue Optionen“.

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