■ Lafontaine stellt die soziale Frage in den globalen Rahmen: Thesen gegen den Neoliberalismus
Es könnte auch eine der üblichen Sonntagsreden gewesen sein, als Oskar Lafontaine am Freitag in Berlin vor entwicklungspolitischem Fachpublikum die „neoliberale Denkungsart“ einer Grundsatzkritik unterzog. Ihre Apologeten bewerteten eine niedrige Inflationsrate höher als eine niedrige Arbeitslosenrate, so der SPD-Chef. Dagegen stellte er „den alten sozialdemokratischen Grundsatz, daß jeder Mensch in dem anderen Menschen die Schwester oder den Bruder sieht“. Angesichts von 4,67 Millionen Arbeitslosen in Deutschland steht auch die SPD auf einmal wieder vor der sozialen Frage.
Die globale Durchsetzung des neoliberalen Wirtschaftsmodells und deren Folgen sind aber nicht nur in Deutschland zu spüren. Arbeitslosigkeit und Armut sind vor allem ein hundertmillionenfaches Phänomen in den Ländern, die man stark verallgemeinernd unter dem Begriff „Dritte Welt“ subsummiert. Da muß eine neue Entwicklungspolitik her, und die hat Lafontaine mit seinem Elf-Punkte-Katalog von Berlin umrissen.
Aber damit aus programmatischen Ansätzen konkrete Politik wird, müssen Wählerstimmen her. Die mobilisiert man hierzulande nicht, das wissen Lafontaine und GenossInnen schon lange, mit dem Elend im fernen Süden. (Die Bündnisgrünen mußten das im Wahlkampf 1990 mit „ihrem“ Thema Ökologie schmerzhaft erleben.) Bei den meisten Deutschen zählt nur der selbsterlebte Schmerz oder zumindest die Drohung, in Arbeits- oder gar Obdachlosigkeit abzurutschen. Deshalb ist es ein Verdienst Lafontaines, nun auch dezidiert und vor einer breiten Öffentlichkeit im Namen der SPD die soziale Frage und den globalen Handlungsrahmen für deren Lösung miteinander in Verbindung gebracht zu haben.
Das ist im Grunde genommen ein politisches Angebot, nicht nur an die Bündnisgrünen, sondern an alle, die an der Basis in einen Abwehrkampf gegen den Sozialabbau der CDU/CSU/FDP-Koalition verwickelt sind. Und es ist, zumindest indirekt, eine Absage an eine Große Koalition. Denn keine deutsche Regierung unter Einschluß des neoliberalen Mainstreams in CDU/CSU würde in der Lage und auch nur willens sein, in der EU, der UNO oder dem Internationalen Währungsfonds Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen auf die soziale Frage global auch eine soziale Antwort gegeben werden könnte. Thomas Ruttig
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