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Schiere Seligkeit

Film als Theater, ein neuer Trend. In Hannover hat Andreas Kriegenburg Kaurismäki inszeniert  ■ Von Petra Kohse

Als das Kino noch ganz jung war, frisch vom Jahrmarkt kam und in die Gesellschaft wollte, da nahm es sich Kredit vom Theater: Es baute Häuser unter dessen Namen, lieh sich seine Schauspieler, Stoffe und Autoren, perfektionierte den Illusionismus und eroberte Teile seines Publikums. Was dem Theater nicht geschadet hat. Angelehnt zunächst an die bildende Kunst ging es andere Wege und sagte: Was Hochkultur ist, bestimme ich. Eine Distinktion, die es jetzt gerne wieder los würde, da es in seinen angestammten Gefilden nichts mehr zu repräsentieren gibt. Also fragt das Theater wieder nach dem Volk und treibt beim Kino die Schulden ein.

Hauptstadt dieser Bewegung ist fraglos Berlin: Frank Castorf etwa inszenierte hier jüngst Fellinis „Stadt der Frauen“, Werner Schroeter Chaplins „Monsieur Verdoux“, Johann Kresnik Pasolinis „Teorema“, und Ende letzter Woche gab es im Off Tarantinos „Reservoir Dogs“ sowie drei Variationen zum Cassavetes-Film „Killing of a Chines Bookie.“ Kein Kultfilm ist vor Theaterdramaturgen derzeit sicher, vom Zugewinn an echtem Lebensgefühl hängt alles ab, und sollte es das von vorgestern oder ganz woanders sein, so war es doch immerhin eine „Uraufführung“. Nennen wir es einen Trend.

Auch Leipzig und Bochum ziehen mit, und jetzt auch Hannover. Hannover aber hatte Glück. Denn dort ist Andreas Kriegenburg, und daß dieser sich „I Hired a Contract Killer“ (1990) von Aki Kaurismäki vornahm, war eine glückliche Fügung. Keiner kann wie Kriegenburg von der Liebe erzählen, höchstens Leander Haußmann, wenn er will. Bei Haußmann aber stürmt und drängt es glamourös, während Kriegenburg die kleinen Leute zeigt, bei denen es so melancholisch und ratlos zugeht, so voller einsamer Hoffnung, tragischer Komik und kleinem Glück, daß man anfängt, die auf der Bühne ebenso zu lieben, wie Kriegenburg sie liebt, und daß man allen zusammen glühend gerne etwas schenken würde, wenn man nur wüßte, was.

Geschult am rotzigen Virtuosentum und dem anarchischen Requisitenspiel des Castorf-Theaters, beeinflußt durch Marthalers Choreographien klaustrophobischen Müßiggangs und dessen Feier der Zwangshandlung sowie die Bewegungssprache des Tanztheaters, hat der 1963 in Magdeburg geborene Kriegenburg eine Ästhetik entwickelt, die all das zusammen- und weiterführt und in den Dienst einer Geschichte stellt.

Meist gibt es ein Mikrophon, über das die Figuren Anschluß an die Restwelt suchen, oft klettern sie glücksucherisch auf den Kulissen herum oder baumeln aneinander herab. Haltlos, aber diszipliniert, mit gelegentlichen Anflügen von Irrsinn. Während seiner Volksbühnenzeit entwickelte Kriegenburg das am schönsten in seinen Inszenierungen von Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ (1994), einem aus verschiedenen Texten montierten „Aufstand der Angestellten“ (1994) und Tollers „Hinkemann“ (1995). Kaurismäkis Angestelltenmelanchomödie ist quasi die logische Fortsetzung.

Der Franzose Henri Boulanger lebt in London, weil ihn zu Hause keiner mag. Er spricht nicht viel, arbeitet seit 15 Jahren in der gleichen Firma und verbringt die Abende mit Topfblumenpflege. Als er entlassen wird, beschließt er zu sterben. Er mietet, weil ihm der Selbstmord nicht gelingt, einen Killer, setzt sich in die Küche und wartet. Irgendwann geht er doch mal einen trinken, sieht das Blumenmädchen Margret, und vom Whisky enthemmt verliebt er sich. Nun möchte er natürlich nicht mehr sterben, aber der lungenkrebskranke Killer will seinen letzten Auftrag gewissenhaft erfüllen.

Im Hannoveraner Ballhof hat Kathrin Frosch ein überdimensioniertes Wartezimmer mit vielen Türen und Linoleumboden gebaut, das in seiner gelungenen Scheußlichkeit an die Räume Anna Viebrocks erinnert, aber nicht so endgültig ist, mit seinen nicht allzu hohen Wänden. Erst tritt der Musiker auf, Tilman Denecke, der mit seiner E-Gitarre den ganzen Abend begleiten wird. Dann kommt Henri.

Alexander Simon trägt die halblangen Haare hinters Ohr gescheitelt, blickt der Trostlosigkeit des Daseins starr entgegen und verkörpert auch sonst die definitive Freudlosigkeit. Jeder Schritt, den er mit seinen klobigen, abgeschabten Stiefeln hinter sich bringt, wird im Geiste gezählt, jede Geste sparsam kalkuliert. Er stellt einen Lachsack auf den Tisch, doch die Dinge hassen ihn: Beim Versuch durch fischartiges Mundschnappen und Bauchhalten Heiterkeit zum Lachsacksound einzuüben, fällt er platt auf den Rücken.

Kriegenburg erzählt die ganze Geschichte und noch viel mehr. Vier Stunden dauert die Inszenierung, und die werden genutzt. Es gibt original übersetzte Dialoge, aber auch komisch absurde eigene.

Henri kündigt nach seiner Entlassung die Wohnung. Im Film sieht man kurz die Vermieterin, die einen traurig-lüsternen Blick auf Henri wirft, Kriegenburg zeigt, wie Martina Struppek und (neue Figur!) Leonie Wessels als ihre Mutter ein Leben in später, seufzender Sehnsucht fristen. Als Henri der Vermieterin das Geld hinstreckt, kramt sie ihre Brust hervor und sinkt ihm entgegen. „Oppala“, sagt Simon mit französischem Akzent, tapst ihr erschrocken ins Gesicht und schiebt sie wieder senkrecht.

Es ist artistisch, es ist Slapstick und phantastisch komponiert. Im Pub entfaltet Kriegenburg ein Panorama verklemmter Exaltationen, bevor Margret auftritt. Im Film ist sie eine aparte Blondine, die dem ältlichen Henri eigentlich überlegen ist. Hier nicht. Mit Mäuseblick und Nestern im langen, braunen Haar, mit dem Flatterkleidchen über dicken Strümpfen und in den gleichen traurigen Schuhen wie Henri, ist Doreen Nixdorf das perfekte Pendant. Dieses Paar in seinem unschuldigen Unglück und seinem schuldlosen Glück muß man gesehen haben; wie es sich in der Dingwelt verheddert und in schierer Seligkeit an die Wände knallt!

Auch der Regisseur tritt auf, schummelt sich hitchcockartig ins Geschehen und fällt zwischen seinen Unterweltsfiguren in Nadelstreifen und fiesen Stiefeletten gar nicht auf. Alle, einfach alle sind gut. Es kommt zu kabarettistischen Einlagen, aus dem Publikum wird eine Uhr geklaut, Hartmut Schories als Killer wirkt wie ein abgeschlaffter Harvey Keitel und klopft wie alle ständig auf seine Uhr. „Damit di Zeit nicht stehenbleibt“, stand unvollständig auf Marthalers „Murx ihn“-Bühne, und bei Kaurismäki beanstandet Henri, daß die goldene Uhr, die ihm die Firma zum Abschied schenkt, nicht geht.

Das Spiel mit den Requisiten entspinnt sich perfekt in eigener Logik. Ein brennender Brief zieht einen Löscheimer nach sich, die daraus gezogene Zeitung läßt sich aufs Gesicht kleben, wo der Steckbrief eines Geliebten auch hingehört usw. Kriegenburg betreibt natürlich Volksbühne in Hannover, aber besser als jemals in Berlin.

Ganz am Ende, wenn sich der Killer selbst gekillt hat, auch alles andere gut ist und der siebte Himmel winken könnte, stehen Simon und Nixdorf Hand in Hand am Bühnenrand und blicken angstvoll ins Leere, wie Hänsel und Gretel auf die Hexe. Dann kippen sie nach vorne über – zum Applaus.

„I Hired a Contract Killer“, nach Kaurismäki. Regie: Andreas Kriegenburg. Bühne: Kathrin Frosch. Staatstheater Hannover, Ballhof.

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