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Onan und der KGB Von Martin Sonneborn

Herrlich, wie die Zeit dem nächsten Jahrtausend entgegendrängt; herrlicher aber fast noch, wie der kleine Mann auf der Straße – und seine Frau – knallverrückt und -verrückter wird.

Nicht etwa unbedingt und immer gleich so offensichtlich durchgedreht wie die Bielefelder Oberstufenlehrerin Frau R., die im Geschichtsunterricht bisweilen ihre Schüler fragte: „Wiiiie nannte man die Juuuden im Dritten Reich?!“ Und sich ihre Frage auch – vornübergebeugt, händereibend und ein wenig schrill – immer gleich selbst beantwortete: „Richtig! Juuuuuudenschweine!“ Aber die wurde dann sowieso bald aus dem Verkehr gezogen bzw. einer schön gelegenen Psychiatrie empfohlen. Die sie sich auch aus anderen Gründen zweifelsohne voll verdient hatte; war sie doch des weiteren dazu übergegangen, nur noch auf verschlungenen Umwegen nach Hause zu fahren. Denn nach dem Unterricht, und auch hier zog sie ihren Leistungskurs ganz ins Vertrauen, wurde sie oftmals von Agenten des russischen Geheimdienstes KGB verfolgt (der diese Operation übrigens bisher offiziell weder bestätigt noch dementiert hat)!

Viel weniger von schweigsamen Männern in dunklen Limousinen mit vergifteten Regenschirmen auf Schritt und Tritt belauert wurde dagegen ihr Kollege Pastor P. Dafür war es diesem aber ein tiefes inneres Bedürfnis, im Religionsunterricht seinen Schülern zum wiederholten Male mit tiefer, bedächtiger Stimme die Geschichte Onans zu erzählen, „Ooonans, der seinen Saaamen auf den Boden fahallenließ...“. Schön, daß die Schüler diese kleine Schwäche tolerierten und alle paar Wochen mit gezielten Fragen halfen, die biblische Geschichte zum Gegenstand des Lehrplans zu machen! Doch soll hier nicht der Eindruck entstehen, alle Wahnsinnigen kämen aus Bielefeld. Überhaupt: Falsch wäre es auch zu glauben, mehr als die wenigsten würden irgendwann so verrückt wie Frau R.

Das Gegenteil ist richtig! Die meisten verschreiben sich fast eher unauffällig einem dezenten Wahnsinn und leben mitten unter uns. Oder in Dresden, wie Fleischermeister During. Denn nur eine kleine Verhornung beliebter Synapsen, ein bißchen Kalk auf der falschen Gedankenkreuzung, und schon verschwimmen gängige abendländische Wertvorstellungen, lauert an der Ecke plötzlich Onan oder der KGB, beglänzt auf einmal eine Anzahl Fleischereifahrzeuge mit dem Aufdruck Was der Kaiser unter den Fürsten – ist During unter den Würsten! die Straßen der Elbmetropole Dresden. Während aber Bielefeld und Dresden nur Verwirrten-Hochburgen sind, ist Frankfurt uneingeschränkt die kapitale Hauptstadt aller Durchgeknallten. Wen verwunderte es, zu hören, daß hier auf der Zeil die Komplettwahnsinnigen agieren: die äußerlich fast unauffälligen Gestalten, die einen begrüßen mit „Heil Hitler! Ich bin SPD!“ Die fünf Mark dafür wollen, daß sie ihr Bierglas verspeisen. Die ihre Leierorgel so schnell wie möglich spielen, damit sie eher nach Hause können. Oder aber – bizarr, bizarr – an einem Zeitschriftentischchen auf uns lauern: „Möchten Sie vielleicht umsonst zwei Wochen Focus lesen...“ Focus! Zwei Wochen! Lesen! Vor so viel konzentriertem Hirnschwurbel schaudere man zurück und verstumme ehrfürchtig.

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