: Gegendruck: Risiko
■ Das Schauspielhaus stellt in einer „Langen Nacht der jungen Dramatiker“sechs Autoren zum Anfassen vor
Wenn die Organisatoren daran glaubten, daß alle kommen, die sie auf Flyern dazu eingeladen haben, hätte man in der Kirchenallee definitiv den falschen Veranstaltungsraum gewählt. „Theatergänger und Schauspieler, Nachtschwärmer, Regisseure und Buchhändler, Dramaturgen, Verleger, Intendanten und Literaten, alle Freunde des geschriebenen und gesprochenen Worts“liest sich die unbescheidene Liste derer, die sich heute zu einer Langen Nacht der jungen Dramatiker in der Kantine des Schauspielhauses einfinden sollen. Man sollte meinen, diese illustre Klientel füllte in einer Stadt wie Hamburg das Große Haus – aber nichts da, wie gesagt, die Kantine.
Doch das Desinteresse an neuen Theaterautoren ist gar nicht so hoch, wie gerne behauptet, sowohl was die Neugier des Publikums als auch die der Theatermacher betrifft. Richtig ist, daß die Rezession Theater massiv unter moralischen und ökonomischen Legitimationsdruck setzt und dieser Druck an die Spielpläne weitergegeben wird. „Es werden wieder mehr Klassiker inszeniert; die Leute gehen immer dahin, wo sie den Titel kennen. Es werden wenig neue Stücke in großen Sälen gemacht, es werden überhaupt weniger Stücke gemacht; es gibt weniger Risikobereitschaft“, zählt Chefdramaturg Wilfried Schulz auf, der die Lange Nacht mit Julia Lochte organisiert hat. „Aber es gibt eine ganze Anzahl von wichtigen Theatern, die dem Druck standhalten, indem sie sehr offensiv mit neuen Texten umgehen.“
Das Schauspielhaus, das diese Spielzeit bereits drei Uraufführungen zeigte, ist natürlich das beste Beispiel für offensive und im übrigen erfolgreiche Spielplanung. Wagnis scheint hier eine Frage der Ehre: „Der Staat trägt mit den Subventionen einen Teil unseres Risikos. Deshalb müssen wir es eingehen. Ohne Risiko nehmen wir uns die Existenzgrundlage.“
Die Lange Nacht wurde von der Berliner Zeitschrift Theater der Zeit initiiert, die in ihrer aktuellen Ausgabe und dem eben erschienenen Arbeitsbuch Stück-Werk die „Dramatik der 90er“verhandelt. Eine Auswahl der 41 vorgestellten deutschsprachigen Dramatiker wurde auf Lesetournee geschickt, sechs von ihnen sind heute nacht in Hamburg: Daniel Call (1967), Wilfried Happel (1965), Kerstin Hensel (1961), Anna Langhoff (1965), Dea Loher (1964) und Simone Schneider (1962). Mit Call hat das Schauspielhaus bereits zusammengearbeitet (Gärten des Grauens), mit den anderen kann man sich gleiches vorstellen.
Was zeichnet die Autoren aus, die das größte Theater Deutschlands spannend findet? Auf Schlagworte möchte man sich hier nicht festlegen, doch gäbe es gemeinsame Kennzeichen: Auf realistische Grundsituationen wird zunehmend zugunsten der Groteske verzichtet, die Grenzen zwischen E und U (Ernst und Unterhaltung) sowie zu anderen Genres werden aufgelöst. Diese „ästhetische Durchlässigkeit“ergibt sich zum einen aus der Kino- und Fernsehsozialisation der Autoren und zum anderen aus der „neuen Souveränität“, mit der sie für verschiedene Medien arbeiten. Allein fürs Theater schreiben die wenigsten – schon aus finanziellen Gründen.
Im Mittelpunkt der Dramatikernacht steht eine Diskussion zum Thema „Menschen in Stücken“. Die Zweideutigkeit ist beabsichtigt, denn auch inhaltlich läßt sich eine Tendenz aufzeigen: Mit der Auflösung des Ostblocks scheint auch der letzte junge Dramatiker die Vision vom ganzen, integren Menschen aufgegeben zu haben und zeigt zerstückelte Bewußtsein. Damit das Publikum sich selbst ein Bild der Lage machen kann, werden die Autoren je zweimal 15 Minuten aus ihren Texten vortragen. Dazu gibt es „easy listening music“sowie Essen und Trinken.
Die Kantine entpuppt sich also doch als der geeignetste Ort für das Vorhaben der Dramaturgen, denn die Lange Nacht will keine Marathonlesung bis zum Umfallen, sondern ein „Salon der Neunziger“sein: Ein entspanntes Umfeld soll konzentrierte Gespräche ermöglichen. Das öffentliche Restaurant und die betriebsinterne Verköstigungsstätte im Keller des Hauses werden dabei so durchlässig wie die Genres und ermöglichen auf diese Weise den souveränen, direkten Austausch zwischen Theatergängern, Literaten, Nachtschwärmern und ... (Liste siehe oben).
Christiane Kühl
heute, 21-2 Uhr, Schauspielhaus
„Stück-Werk. Deutschsprachige Dramatik der 90er Jahre“, hg. v. „Theater der Zeit“, Berlin 1997, 160 Seiten, 24,80 Mark
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