: Seufzen beim Ausflug ins Blaue
■ Souverän und sinnlich schildert Hermann Kinders Erzählung „Um Leben und Tod“ein langsames Verschwinden
Um Leben und Tod also geht es – ganz ohne Pathos, ohne eine falsche und schon ganz ohne eine richtige Bescheidenheit. Statt dessen die schnörkellose Schilderung einer letzten, sehr persönlichen Zeit.
Erzählt wird eine Sterbegeschichte, eine Geschichte von den „Veränderungen“, die die alte und kranke Mutter, ebenso aber ihren Sohn betreffen. Denn beinahe ist auch er schon alt. Schlichte Vereinnahmung und Betroffenheitsgesten, das zählt nicht zu den Angelegenheiten, die dort im Pflegeheim und auf den kleinen Auswegen zwischendrin die Geschichte beschäftigen. „Vor dem Knöchel“, „Vor dem Unterschenkel“oder „Vor dem Oberschenkel“– nur drei Kapitel und Stationen, über die hinweg die Mutter Körperteil um Körperteil physisch aus dem Leben verschwindet. Keine Rührseligkeiten, keine Sentimentalitäten. Und doch erzählt Kinder etwas ganz Anrührendes. Und etwas, das in seinem Wissen, seiner Beobachtungsgabe, den leise angedeuteten Zusammenhängen zwischen diesem Sterben und dem Leben „davor“erheblich über jede Alltags- und vermeintlich verstehende Psychologie hinausgeht.
Das Leben also ist gelebt, und so fällt der Abschied nicht plötzlich aus. Der vollzieht sich vielmehr in den Verrichtungen der Kranken- und Liebesdienste des Sohnes, in seiner stillen und tiefen Panik, den Besorgungen und alltäglichen Pflichten. Bis hinein in jedes Möbelstück, hinhein in das „seit zwanzig Jahren“beste Kleid – durch jedes kleine und größere Utensil eines Haushalts erzählt sich dieser Abschied und die Angst vor dem Verlust. Noch im ärgsten Uringeruch, als die Mutter schon beinahe aufgegeben hat und fast nichts mehr von ihr übrig scheint, riecht Meier sie wie „als Kind“.
Es ist das Besondere an Hermann Kinders Erzählung, wie souverän und sinnlich sie sich dieser Angst annähert, wie wenig sie es nötig hat, zu beschwichtigen, zu trösten oder auch nur in Aussicht zu stellen. Das Liebevolle dieser Annäherung, ihre Zärtlichkeit liegt an einer anderen, einer schwierigeren und sehr viel intimeren Stelle. Es ist der prekäre „Ort“des alten Körpers, von dessen Wirklichkeit die Erzählung eindrücklich, bis zum äußersten genau, niemals aber denunziatorisch weiß und spricht. Kindlers Erzählung Um Leben und Tod ist es jenseits aller stereotypen Zuschreibungen und sehr genau im Leben selbst zu tun. Erst wenn der pragmatische, bodenständige Teil erledigt ist, gestattet sie sich ein Seufzen in recht bekannten Lebensmetaphern und Todeskulissen, wie die Ausflüge ins Blaue, die schnellen Kurven und Berge, von denen man das Meer sehen kann.
Elisabeth Wagner
Hermann Kinder: „Um Leben und Tod“. Erzählung. Rotbuch Verlag. Hamburg 1997, 140 Seiten, 34 Mark
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen