: Polen hat eine neue Verfassung
Nach langem Ringen nimmt die Nationalversammlung mit großer Mehrheit einen Kompromißentwurf an. Ende Mai nun soll die Bevölkerung über das Projekt abstimmen ■ Aus Warschau Gabriele Lesser
360mal mußten die Abgeordneten und Senatoren der polnischen Nationalversammlung entscheiden, 360mal den Arm heben; kurz vor Mitternacht war es geschafft: Nach über dreijährigen zähen Verhandlungen stand das Gesamtprojekt der neuen polnischen Verfassung. Am Samstag nahm die überwältigende Mehrheit von Sejm und Senat die neue Verfassung an: 461 Abgeordnete von 560 stimmten für den Kompromißvorschlag, 31 dagegen und 5 enthielten sich der Stimme.
Für Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski, der in den nächsten Tagen seine Zustimmung oder Änderungswünsche bekanntgeben wird, war dies „ein historischer Tag“. Sollte der Zeitplan eingehalten werden und die Bevölkerung Polens am 25. Mai für die Verfassung stimmen, könnte das Land Papst Johannes Paul II. bereits als parlamentarische Demokratie begrüßen. Der Papst wird für den 31. Mai 1997 zu einem elftägigen Besuch erwartet.
Die zweite Lesung des Projektes endete in einer Atmosphäre des Kompromisses. Vor vier Wochen hatte es so ausgesehen, als könnte das Projekt erneut scheitern. Die außerparlamentarische Opposition hatte den Verfassungsentwurf von Regierung und Oppostion als „vom marxistischen Geist inspiriert“ verworfen.
Marian Krzaklewski, seit 1991 Chef der Gewerkschaft Solidaność und seit Mitte 1996 Vorsitzender des Wahlbündnisses Solidaność (AWS) nutzte seinen Auftritt in der Nationalversammlung zu einem spektakulären „Non possumus!“. Statt Änderungsvorschlägen zur Verfassung legte Krzaklewski einen Gegenentwurf der außerparlamentarischen AWS vor. Da die beiden Entwürfe sich in wesentlichen Punkten unterschieden, lehnte Krzaklewski jede Diskussion, die nur auf einen (faulen) Kompromiß hinauslaufen würde, ab. Statt dessen sollten die Entwürfe der „Regierungs“- und der „Bürger“-Verfassung gleichberechtigt zur Volksabstimmung zugelassen werden.
Heftig potestiert hatte auch die katholische Kirche. Während es Krzaklewski in erster Linie um die Festschreibung national-konservativer Werte und die historische Abrechnung mit dem kommunistischen Regime ging, verlangten die Bischöfe eine Präambel, in der ausdrücklich die Verantwortung vor Gott festgeschrieben sein sollte. Außerdem sollte der christliche Wertekanon zur Grundlage der Staatsordnung erklärt werden.
Der jetzt verabschiedete Verfassungsentwurf berücksichtigt alle Einwände und Wünsche „in Maßen“. Demnach ist Polen nun eine parlamentarische Demokratie, an deren Spitze ein relativ schwacher Präsident steht. Das Parlament kann sein Veto mit einer Dreifünftelmehrheit verwerfen. Verloren hat der Präsident sein Vetorecht gegen das Haushaltsgesetz und die sogenannten „Präsidentenressorts. Das Mitspracherecht des Präsidenten bei der Ernennung von Innen-, Außen- und Verteidigungsminister war in der Praxis der letzten Jahre zu einem Vorschlagsvorrecht gegenüber dem eigentlichen Regierungschef geworden. Dies ist nun genauer geregelt.
Das Verfassungsgericht kann demnächst Gesetze verbindlich auf deren Verfassungsmäßigkeit überprüfen. Auch die Bürger erhalten mehr Rechte. Sie können in Zukunft vor dem Verfassungsgericht klagen. Ihre direkte Beteiligung an der Macht ist möglich durch ein Volksbegehren, das mit 100.000 Unterschriften eingeleitet werden kann.
Den Wünschen von Kirche und Wahlbündnis Solidarność entsprach die Verfassunggebende Versammlung mit einer Kompromißformel in der Präambel. „Wir, die polnische Nation“, lautet nun die bislang höchst umstrittene Einleitung zur Verfassung. Zugleich wird diese „polnische Nation“ definiert als „alle Staatsbürger der Republik umfassend“. Ebenso hat Tadeusz Mazowiecki, Autor der Präambel und erster demokratischer Ministerpräsident, den Streit um die Invocatio Dei gelöst. Die Verfassung gilt für Bürger, deren höchste Werte, „Wahrheit, Gerechtigkeit und das Gute“, in Gott oder „einer anderen Quelle“ gründen.
Nicht berücksichtigt hat die Natioalversammlung den Wunsch der AWS nach einem absoluten Verbot der Abtreibung. Auch die Formulierung der Bischöfe: „Schutz des Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod“ verwarfen die Abgeordneten.
Wenn die Polen Ende Mai dem Grundgesetz zustimmen, endet ein jahrelanges Provisorium, das dem Parlament böse Vorwürfe eingebracht hatte. Die ständigen Nachbesserungen an der stalinistischen Verfassung von 1952 seien nicht der erwartete Neuanfang von 1989, sondern „Murks statt Marx“, so Mazowiecki. Für ihn ist die jetzige Version die „zur Zeit für Polen bestmögliche Verfassung“.
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