: Die deutsche Einheit, ein amerikanischer Traum
Für die beiden Wissenschaftler Condoleezza Rice und Philip Zelikow ist die deutsche Einheit vor allem die Verwirklichung US-amerikanischer Politik. Valentin Falin konstatiert für die sowjetische Seite Konzeptionslosigkeit ■ Von Dieter Rulff
Der plötzliche und friedlich verlaufende Sturz der französischen Monarchie in der Februarrevolution von 1848 war, nach der zeitgenössischen Ansicht Alexis de Tocquevilles, „mehr vor den Augen als unter den Schlägen der Sieger“ erfolgt, „die über ihren Sieg ebenso erstaunt waren wie die Besiegten über ihre Niederlage“. Die Februarrevolution sei „wie alle anderen großen Geschehnisse dieser Art aus allgemeinen Ursachen“ entstanden, „die von Zufällen sozusagen befruchtet wurden“.
Einen solchen Wirkzusammenhang sehen Philip Zelikow und Condoleezza Rice 141 Jahre später auch im plötzlichen und friedlich verlaufenden Einigungsprozeß Deutschlands am Werke, wobei die beiden US-Wissenschaftler Tocquevilles Definition des Zufalls als einer „verwickelten Folge untergeordneter Ursachen“, die wir nur so nennen, „weil wir sie nicht entwirren können“, für sich nicht gelten lassen. Sie versuchen, alle Variablen des Vereinigungsprozesses aufzuschlüsseln, die Akteure zu benennen und deren Interessenslagen zu identifizieren. Resultat dieses Ehrgeizes ist ein Buch von manchmal erschlagender Detailfülle, obwohl die Autoren ihr Thema schon eingeschränkt haben. „Sternstunden der Diplomatie“ beschreibt in erster Linie die Zwei-plus-vier-Gespräche und geht auf die innerstaatlichen wie internationalen Veränderungen der Jahre 1989 und 1990 nur ein, soweit sie zur Erläuterung der Verhandlungsposition bedeutsam erscheinen.
Dabei nehmen Rice und Zelikow für sich in Anspruch, was ihrer Ansicht nach keines der vielen Bücher über die Vereinigung Deutschlands enthält: „... die deutsche und die amerikanische und die sowjetische Geschichte zu erzählen und dann zu untersuchen, in welcher Weise sie aufeinander eingewirkt haben.“
Herausgekommen ist allerdings in erster Linie eine amerikanische Geschichte. Das hat seinen Grund, denn beide Autoren waren nicht nur Beobachter, sondern auch Beteiligte. Rice und Zelikow waren 1990 im Nationalen Sicherheitsrat der USA tätig und mit der Erstellung so mancher Vorlage für den Verhandlungsprozeß betraut. Ihr Buch entstand zunächst als interne Studie, die Robert Zoellick in Auftrag gegeben hatte. Zoellick war Berater des US-Außenministers James Baker und einer der Architekten des Zwei-plus-vier-Modells.
Rice und Zelikow hatten nicht nur aus eigener Anschauung Kenntnisse, sie erhielten zudem Zugang zu geheimen Unterlagen und führten selbst viele Gespräche. Sie studierten auch russische Quellen und interviewten Beteiligte auf sowjetischer Seite. Doch bleiben hier ihre Wahrnehmungen häufig vage und die Einschätzungen unpräzise. So erschließt sich aus dem Buch kaum, weshalb Gorbatschow beim Gipfeltreffen mit Bush Ende Mai 1990 von der ursprünglich starren Ablehnung einer Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands abwich und diesem die freie Bündniswahl zugestand. Es empfielt sich, ergänzend die entsprechenden Passagen von Valentin Falins neuem Buch „Konflikte im Kreml“ zu lesen, einer geharnischten Abrechnung mit Gorbatschow. Dann wird die strategische Konzeptionslosigkeit deutlich, mit der der russische Präsident während dieser Sommermonate agierte, eine Konzeptionslosigkeit, die nach Falins Ansicht beim Kaukasustreffen mit Kohl ihren Höhepunkt fand. Nun spricht aus Falin allerdings der verbitterte Bolschewik, der die Widerstandsmöglichkeiten der Sowjetmacht zu dieser Zeit völlig überschätzte. Denn auch er wußte keine Linie, an der der Rückzug zu stoppen sei, ohne einen unkalkulierbaren Konflikt zu riskieren. Allerdings erkannte er, als ein im Blockdenken verhafteter und mit ihm vertrauter Diplomat, sehr viel klarer, daß die Nato- Mitgliedschaft Deutschlands nur ein erster Schritt zur Ausdehung des Militärbündnisses nach Osten war. Die weitere Entwicklung sollte ihm recht geben.
In diesem Punkt spiegeln sich die beiden Bücher aus der zweiten Reihe der Politik in auffälliger Weise. Für die US-Administration ist die Nato-Mitgliedschaft Deutschlands die Conditio sine qua non des Vereinigungsprozesses. Zwar enthält das Buch von Zelikow und Rice keine Belege dafür, daß bereits seinerzeit an einer Ausdehnung über Deutschland hinaus konzeptionell gearbeitet wurde, doch war die Einheit ohne Westbindung, ohne Nato-Mitgliedschaft für die Bush-Administration schlichtweg nicht denkbar. Das Militärbündnis hatte für sie eine eminente politische Bedeutung, die der US-Präsident auch mehrfach betonte. Das Buch der Diplomaten offenbart an diesem entscheidenden Punkt ein erstaunliches Maß an politischer Phantasielosigkeit der Washingtoner Think- tanks. Nach bewährtem Muster auf die Veränderung zu reagieren, darin lag die Stärke (oder Schwäche) der US-amerikanischen Außenpolitik bei der europäischen Umgestaltung. „Europäische“ Positionen, wie sie von Mitterrand verspätet mehr angedeutet als verfolgt wurden, konnten sich gegen die starke Interessenachse Washington–Bonn nicht durchsetzen.
Die Bundesregierung, sofern sie überhaupt abweichende Gedanken hegte, beugte sich dem Nato- Primat schnell. Noch im Januar 1990 hatte Außenminister Genscher auf seiner berühmten Tutzinger Rede davon geredet, daß es „eine Ausdehnung des Nato-Territoriums nach Osten... nicht geben“ werde – auch wenn er in seinen „Erinnerungen“ (Siedler Verlag, 1995) diese Ausführungen als Bekenntnis zum Bündnis gewertet wissen will. Am 23. März plädierte er vor der WEU-Versammlung dafür, „neue Sicherheitsstrukturen“ zu schaffen, von denen die Bündnisse „zunehmend überwölbt“ würden, um schließlich in ihnen aufzugehen. Genscher beließ es bei dieser nebulösen Skizze. Doch reichte sie bereits, um auf amerikanischer Seite zu einigen Irritationen über die deutsche Zuverlässigkeit zu führen. Kurzfristig hielt die Tutzinger Position gar Einzug in die Verhandlungen mit den Sowjets – um allerdings umgehend revidiert zu werden.
Es ist kein Zufall, daß Rice und Zelikow unter den deutschen Protagonisten der Einheit Kohl den eindeutigen Vorrang einräumen. Zwar wurde anfangs auch er in Washington der bündnispolitischen Häresie verdächtigt, doch beugte er sich sehr schnell dem Nato-Dogma, wohl wissend, daß er ohne Bushs Rückendeckung sich kaum gegen eine widerstrebende Margaret Thatcher und einen zaudernden François Mitterrand durchsetzen konnte. Rice und Zelikow schwärmen geradezu von Kohls „untrüglichen Instinkt“, mit dem dieser den inneren Einigungsprozeß forciert und damit das Tempo der Zwei-plus-vier-Verhandlungen vorgibt. Dem beugte sich letztendlich auch die sowjetische Seite, indem sie sich nur noch auf finanzielle Forderungen kaprizierte.
Bereits Anfang Juli 1990, vor seinem Treffen mit Kohl, antwortete Gorbatschow auf die mahnenden Vorhalte seines außenpolitischen Berater Falin: „Ich fürchte, daß der Zug schon abgefahren ist.“
Philip Zelikow, Condoleezza Rice: „Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas“. Aus dem Amerikanischen von Klaus-Dieter Schmidt, Ullstein-Propyläen-Verlag, Berlin 1997, 654 S., 58 DM
Valentin Falin: „Konflikte im Kreml. Zur Vorgeschichte der deutschen Einheit und Auflösung der Sowjetunion“. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger, Karl Blessing Verlag, 1997, 316 Seiten, 42,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen