: Der Golfplatz fehlt in Marzahn
Nicht Sprachprobleme, sondern das Klarkommen mit sozialen und kulturellen Unterschieden ist für AustauschschülerInnen die größte Herausforderung ■ Von Julia Naumann
Als Samantha Cebrero im vergangenen November von San Diego nach Marzahn kam, veränderte sich ihr gesamtes Leben. Statt der schmucken Reihenhäuser im Westernstil mit Swimmingpool mußte sie sich an ein Plattenhochhaus mit Wohnungen im Schuhkartonformat gewöhnen. Statt Badewetter auch im Winter gab es nur Regen und Schneematsch. Und der Golfplatz hat ihr gefehlt. In ihrer High-School in San Diego ist die 16jährige nämlich eine anerkannte Spielerin, die schon viele Preise gewonnen hat. In Berlin kann sie davon nur träumen. Zwischen den Hochhäusern in Marzahn gibt es keine Fairways, über den Samantha ihren Ball schlagen kann, hier ist für die Kids Streetball schon das höchste der Gefühle. Doch das alles macht ihr nichts aus. Sagt sie jedenfalls. Berlin sei zwar sehr „grau“, aber „very interesting“, ihre Gastfamilie – eine Architektin und ein Tee- und Weinladenbesitzer – „sehr nett“. Was sie nur wirklich vermißt, sind Ball und Schläger. „Das ist hier eben nicht üblich“, sagt Samantha in gebrochenem Deutsch, mit leichtem Bedauern in der Stimme.
Nicht die Sprache ist die größte Herausforderung für AustauschschülerInnen, sondern mögliche soziale Unterschiede zwischen Gastfamilie und Exchange-Student, sagt Heribert von Reiche vom Austausch-Zentrum. Deshalb sei eine wichtige Voraussetzung für ein erfolgreiches Jahr, daß die AustauschschülerInnen bereit seien, sich an ein neues Leben anzupassen. Also beispielsweise zu akzeptieren, daß eine Mormonen- familie mit sechs Kindern in Arizona/USA vor jeder Mahlzeit betet und nicht nur Alkohol, sondern auch Kaffee und Tee absolut tabu sind. Daß es dabei nicht zu ständigen Reibereien und Mißverständnissen kommt, wird der/die SchülerIn bei den gemeinnützigen Austauschorganisationen American Field Service (AFS) und Youth for Understanding (YFU) schon während der Auswahlgespräche auf mögliche konfliktträchtige Situationen vorbereitet.
Wie sollte beispielsweise der Exchange-Student reagieren, wenn die weißen Gasteltern ihm oder ihr verbieten, einen mexikanischen oder schwarzen Freund zu haben? Schreien: „Ihr seid ja Rassisten“? Oder sich ohne zu Murren den Worten der Eltern auf Zeit beugen und den Freund nicht mehr treffen? „Auf so eine Frage kann man natürlich keine wirklich richtige Antwort geben“, sagt von Reiche. Bei den Gesprächen käme es vielmehr darauf an, in der Gruppe über mögliche Probleme zu diskutieren und vor allen Dingen zuzuhören: „Warum denken andere Menschen anders?“
Neben der Gastfamilie ist die Schule natürlich der wichtigste Lebensmittelpunkt für die AustauschülerInnen. Der 17jährige Marco Scarinci aus der Nähe von Mailand hat mit dem Berliner Schulsystem keine Probleme. Er schreibt die Klassenarbeiten so gut er kann und freut sich über seine sprachlichen Fortschritte. Seine Deutschkenntnisse sind mittlerweile recht passabel; vor einem halben Jahr waren es nur Bruchstücke. Bei Samantha ist das anders. Sie kennt von ihrer High- School in San Diego als wichtigstes Unterrichtselement nur die Multiple-choice-Tests zum Ankreuzen. Mündliche Teilnahme dagegen zählt nicht so sehr.
Der Unterricht an dem Marzahner Gymnasium überfordert sie deshalb. Anstatt den Wortschwall nach bekannten und unbekannten Begriffen zu filtern, schaltetet sie deshalb immer öfter ab und schreibt lieber Briefe an ihre Freunde und Eltern in Kalifornien. Doch die Schule ist ihr trotzdem wichtig, denn sie ist die größte Kontaktbörse für die AustauschschülerInnen. Nach ihrer Ankunft war Samantha ein Star, alle wollten die Amerikanerin aus dem Surferparadies kennenlernen. Das Interesse und die Neugier relativiert sich jedoch im Lauf der Monate, hat auch Marco erfahren: „Am Anfang war ich eine Attraktion“, sagt er grinsend. Heute habe er zwar viele „Bekannte“, die er vielleicht auch „Freunde“ nennen könnte, aber insgesamt blieben die Kontakte eher oberflächlich: „In die Cliquen reinzukommen, ist sehr schwer.“ Doch die anderen AustauschschülerInnen, mit denen sich Marco und Samantha regelmäßig treffen, ersetzen das fehlende Gemeinschaftsgefühl, und man tröstet sich gegenseitig bei Heimweh.
Bei Felix Ackermann, der vor zwei Jahren als einziger deutscher Austauschschüler in Polen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Posnan war, haben sich die Bekanntschaften mittlerweile in dicke Freundschaften umgewandelt. Der 18jährige spricht fließend Polnisch und fährt nach seinen Worten alle ein bis zwei Monate auf eine Party oder zu seinen Gasteltern in das nur 270 Kilometer entfernte Wronki. Doch ob nach Polen, in die USA oder nach Thailand: Sehr viele Ehemalige zieht es auch nach dem Austauschjahr wieder in die neue alte Heimat. Denn irgendwie haben sich fast alle „zu Hause“ gefühlt. Auch ohne Golfplatz und mit Kaffeeverbot.
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