Trommler und Junkie-Chef

Robert Böhm ist der neue Koordinator des Netzwerks „Junkies, Ehemalige, Substituierte“  ■ Von Manfred Kriener

Die nicht besonders gescheite Frage, wie lange er denn „Drogen“ genommen habe, kann Robert Böhm (44) so eindeutig kaum beantworten. Der Plural ist ohnehin falsch, denn gemeint ist nur die eine Droge: Heroin. „Eigentlich“, sagt er dann, „bin ich heute noch drauf.“ „Eigentlich“, das meint seine unveränderte Identität als Junkie und seine Zugehörigkeit zur alten Drogenszene, die er trotz der gewonnenen Distanz nach wie vor empfindet. „Eigentlich“, das ist aber vor allem die Substitution mit Methadon.

Der Heroinersatzstoff liegt irgendwo dazwischen, zwischen der schönen abstinenten Welt der deutschen Drogenpolitik und dem Elend der Bahnhofstoilette. Genau diese Grauzone ist für Robert Böhm zu einem behaglichen Zuhause geworden. Sie hat ihm das Leben gerettet. Aus dem Fixer von der Szene ist wieder ein neugieriger Mensch geworden mit Köfferchen, Trenchcoat und sauberer Aktenablage in seinem Büro.

Betreten hat er die Grauzone vor fünf Jahren. Im Juli 1991 war er als „Patient Nummer eins“ in das neu eingerichtete Oldenburger Methadonprogramm aufgenommen worden. Nach vielen vergeblichen Entzugsversuchen und drei gescheiterten Langzeittherapien, nach fünf Jahren Knast und fünfzehn Jahren Heroin hat er es mit seinem Arzt „einfach probiert“. Geholfen hat ihm dabei seine Infektion mit dem Aidsvirus. „Hol dir HIV, und du siehst die Welt“ heißt ein spöttischer Jokus, mit dem die amerikanischen Schwulen ihre Reiselust ironisieren. „Hol dir HIV, und du beginnst ein neues Leben“ heißt die Version für die Drogenszene.

Grausam, aber wahr: Ohne das Virus in seinem Blut wäre Böhm nie zur Substitution zugelassen worden. So waren die Zulassungsbedingungen, und so sind sie oft heute noch. Aber ohne die Substitution wäre er nie aus der Illegalität rausgekommen, hätte sein Leben nicht die Richtung geändert.

Der Kurswechsel war dramatisch. Die Gier auf den nächsten Druck war weg. Gleichzeitig fühlte er sich „völlig clean im Kopf“. Das von Dealern und Polizisten, Spritzbestecken und braunen Tütchen verstellte Leben meldete sich zurück. Die Welt war wieder aufgetaucht. Und es gab ein völlig neues, unerwartetes Problem: „Du hast plötzlich 24 Stunden Zeit, die du irgendwie ausfüllen mußt.“ Der Tag des Heroinsüchtigen ist wunderbar geregelt. Von morgens bis abends dreht sich alles um ein Ding: Geld und Gift, Kohle beschaffen, Stoff beschaffen. Das reicht für einen ausgefüllten Tag und meistens auch noch für die Nacht. Jetzt gab es nur noch den kurzen Weg zum Arzt, dann drohten 23 Stunden freie Zeit. Was tun?

Robert Böhm war so verunsichert, daß er sich ein halbes Jahr lang in seiner Bude verbarrikadierte. Nur zum Einkaufen traute er sich kurz auf die Straße. Ähnlich isoliert war er nur im Gefängnis gewesen – in der Einzelhaft.

1986 hatte die JVA Oldenburg per Zwangstest beim Gefangenen Böhm die Infektion mit dem Aidsvirus nachgewiesen. Er war der erste Oldenburger Knacki mit HIV. „Sie haben Aids“, warf ihm der Schließer kurz und knapp hin. Kein Gespräch, keine ärztliche Beratung, nur die in die Zelle hineingerufene Diagnose: Aids. Und sie war auch noch falsch. HIV-infiziert heißt noch lange nicht aidskrank. Böhm ist bis heute von den ganz schweren Krankheitsschüben verschont geblieben.

Beratung und Betreuung fanden also nicht statt, dafür wurde der erste infizierte Oldenburger Gefangene „aus Sicherheitsgründen“ in die Einzelbox verlegt. Und das Personal kam mit Gummihandschuhen. „Das war 1986, da hatten die alle noch Angst vor Aids“, sagt Böhm, als müsse er die Schließer nachträglich in Schutz nehmen.

Die zweite scharfe Zäsur provozierte sechs Jahre später ein Drogenseminar von JES, dem damals neu gegründeten Netzwerk für Junkies, Ehemalige und Substituierte. Eine Sozialarbeiterin schickte Böhm auf das Seminar, und er ging hin. Entscheidend war der Kontakt mit anderen Substituierten. Von ihnen konnte er „abgucken, wie die sich so verhalten“. Nach fünfzehn Drogenjahren lernte der ehemalige Autoschlosser, Gastwirt und Bürokaufmann die einfachen Dinge wieder neu: miteinander reden, Umgang haben, leben.

Robert Böhm blieb bei JES, gründete die Ortsgruppe Oldenburg, setzte sich in der Rockgruppe „Midnight-Express“ ans Schlagzeug und trommelte „von Junkies für Junkies“. Das örtliche Methadonprogramm wurde angekurbelt, die Einstiegsbedingungen auf der Szene bekanntgemacht, Ärzte gesucht und gefunden, „und plötzlich kamen die Leute zu uns“.

Das war vor fünf Jahren. Inzwischen werden in der Bundesrepublik etwa 20.000 Junkies mit den Heroinersatzstoffen Methadon und Polamidon versorgt. Inzwischen hat sich JES zu einer etablierten Selbsthilfeorganisation mit Gruppen in 40 Städten gemausert. Und inzwischen ist Robert Böhm der Chefkoordinator des Netzwerks geworden. Man könnte auch sagen, er ist der erste Vorsitzende der deutschen Junkies. Und darauf ist er ein klein wenig stolz.

Von Werner Hermann, dem kürzlich an Aids gestorbenen Gründer und langjährigen Leiter, hat Böhm die einzige bezahlte JES-Stelle in Berlin übernommen. Jetzt sitzt er – mal mit seinem Hund „Charlie“, mal ohne – in dem winzigen Büro im Haus der Deutschen Aids-Hilfe, redigiert die JES-Zeitung Drogenkurier, sucht Referenten für Seminare und Verbündete für die Drogenpolitik, organisiert Demonstrationen und bundesweite „Alte-Hasen-Treffen“, schreibt Protestbriefe an die AOK und diskutiert mit Streetworkern über die beängstigende Entwicklung auf der Straße. „Immer jünger, immer kaputter“ sieht er die Szene. Der wahllose Drogencocktail aus Alkohol, Tabletten, Heroin und „allen möglichen anderen Sachen“ läßt die Junkies nach Böhms Beobachtungen viel schneller verelenden. „Wozu wir früher ein halbes Leben gebraucht haben, das schaffen die heute schon mit 18.“ Gedrückt, geschluckt, gesnieft wird alles, was turnt. Verfall und Obdachlosigkeit nehmen rapide zu.

Einmal im Jahr zählt dann der Drogenbeauftragte die Toten. Aber medizinische Hilfen, Essen, Schlafplätze oder auch nur eine warme Dusche, also „niedrigschwellige Angebote“ an die Szene, sind in vielen Städten so rar wie die Eintrittskarten zur Substitution. Die werden außerhalb der Vorzeigeprojekte nach wie vor nach der „Euthanasie-Methode“ verteilt, sagt Böhm. Und sein Blick sagt: Warum ändert sich das so langsam, warum müssen so viele krepieren? Substituiert wird mit Ausnahme schwangerer Frauen nur, wer an der HIV-Infektion, an Leberzirrhose, schwerer Hepatitis und anderen todbringenden Übeln erkrankt ist.

Das Bild der Öffentlichkeit vom Heroinabhängigen ist unterdessen auf dem Stand der 70er Jahre stehengeblieben. Jahr für Jahr, kritisiert Böhm, werden die Süchtigen nach Stoffzugehörigkeiten sauber getrennt hochgerechnet. Doch „der reine Heroin-Junkie ist längst ausgestorben“. Genauso fragwürdig sei die immer wieder gehandelte Zahl von angeblich konstant 100.000 Fixern. Wer hat sie gezählt? Böhm ist sicher, daß es „sehr viel mehr sind“. Aber nicht jeder Junkie ist auffällig. Manche gehen Berufen nach, leben außerhalb der Szene und kommen schick gekleidet mit Aktentasche zur Spritzenausgabe am Beratungsbus.

Auf nicht weniger als 30.000 Personen schätzt Böhm die Zahl derjenigen, die sich jenseits der eng begrenzten, offiziellen Substitutionsprogramme selbst mit Ersatzdrogen versorgen. Codein heißt der Stoff, aus dem zwar nicht die Träume sind, von dem aber die Lebenstüchtigkeit dieser vielen tausend Menschen unmittelbar abhängt. Wer Codein nimmt, muß sich nicht als Junkie outen, darf seinen Arbeitsplatz und Führerschein behalten, kann ohne das Stigma des Süchtigen weiterleben. Böhm hat in Oldenburg noch selbst nach Ärzten und Apothekern gesucht, die bereit waren, Codein zu verschreiben und den Aussteigern aus der Szene eine Alternative zum Straßenheroin zu bieten.

Jetzt macht die Bundesregierung Druck. Codein soll nach dem neuen Gesetzentwurf dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt werden, die letzte Nische könnte verschwinden. An der Codein-Substitution, glaubt Böhm, hängen 30.000 Existenzen, die wieder in die Szene und Illegalität zurückgeworfen würden. Vor allem aber hängt an dieser Richtungsentscheidung der Kurs der künftigen deutschen Drogenpolitik.

Die gesellschaftliche Stimmung im Lande sieht Böhm trotz allem verhalten optimistisch. „Du kannst heute über viele Dinge offen diskutieren, für die man uns vor zehn Jahren vom Podium gejagt hat.“ Es habe in den letzten Jahren erfreuliche Signale gegeben, auch wenn manche wieder verpufft sind. So habe das Bundesverfassungsgericht Kleinmengen von Haschisch im Prinzip legalisiert. Aber in einzelnen Bundesländern und im Polizeiapparat sei die Botschaft noch lange nicht überall angekommen.

Also muß JES immer wieder neu trommeln gegen die Kriminalisierung, für Druckräume und kontrollierte Heroinvergabe, für eine offenere Substitution, gegen das erbarmungslose Diktat der Abstinenz. „Abstinenz ist der schwierigste Weg“, weiß Böhm aus eigener Erfahrung, „das schaffen die wenigsten.“ Er selbst hat es nicht geschafft, und er will es auch nicht mehr schaffen. Er will das bleiben, was er einen „Drogengebraucher“ nennt. Für sich und all die anderen will er die besten Bedingungen rausholen, um mit den Ersatzdrogen weiterzuleben. Böhm hat überlebt, er ist 44 Jahre alt geworden trotz Heroin, HIV und Knast. Vielleicht hat er etwas mehr Glück gehabt als die anderen. Vielleicht „haben der Knast und die Therapieversuche meinem Körper die notwendigen Pausen verschafft“. Gesund ist er auch heute nicht. Die HIV-Infektion hat die Helferzellen zwischenzeitlich unter 100 gedrückt. Böhm weiß, daß die Zeit begrenzt ist, „aber das ist sie sowieso“.

Mühsam genug mußten die Junkies lernen, sich einzumischen. Sie haben ein Netzwerk, eine Zeitung und mit Robert Böhm einen bezahlten Sprecher. „Aber alles, was wir machen, ist neu. Es gibt nichts, an dem wir uns orientieren können.“ Trotzdem läuft's ganz gut. Auch Bonn kommt nicht mehr daran vorbei, in der Drogenpolitik JES zumindest anzuhören. Die Junkies als Drogenexperten? Aber das waren sie ja schon immer.