„Wegsehen droht zum Leitbild zu werden“

■ In Hamburg wurde eine 17jährige am hellichten Tage in einer S-Bahn vergewaltigt – und niemand half ihr. Der Kriminologe Fritz Sack sieht darin ein Beispiel für den Werteverfall

Erst jetzt wurde bekannt, daß in Hamburg am frühen Nachmittag des 6. März eine 17jähriges Frau in der S-Bahn von einem Mann vergewaltigt wurde. Von den Fahrgästen in dem 1. Klasse-Abteil erhielt sie keine Hilfe. Nach Polizeiangaben war die Vergewaltigung für die Fahrgäste jedoch nur schwer als Verbrechen zu erkennen. Hohe Trennwände hätten die Sicht behindert. Die taz sprach mit dem Kriminologen und Soziologen Fritz Sack (66) von der Universität Hamburg.

taz: Sehen Sie in dem Fall eine zunehmende Brutalisierung der Gesellschaft?

Fritz Sack: Das Wegsehen, Nicht-eingreifen-Wollen ist ein generelles Problem. In anderer Form findet sich das sehr treffend ausgedrückt in dem Buchtitel „Eure Armut kotzt mich an“. Das private Interesse wird mehr und mehr zum Leitbild dieser Gesellschaft.

In den USA widmet man sich dieses Phänomens seit längerem wissenschaftlich. Zu welchen Ergebnissen ist man dort gekommen?

Gerade im Zusammenhang mit der Holocaust-Forschung haben sich die Amerikaner dem Phänomen des Wegsehens gewidmet. In der NS-Zeit war das Nicht-hinschauen-Wollen ja regelrecht zur Staatsdoktrin erhoben worden. Das ist auch zu experimentellen Forschungen genutzt worden. In einer Untersuchung hat jemand in einem U-Bahn-Wagen einen anderen Fahrgast nach der Endstation gefragt. Die Antwort war stets die falsche. Interessant war nun, wie die übrigen Gäste auf den Tonfall des Antwortenden reagierten. Sprach er normal, haben ihn 50 Prozent korrigiert; sprach er aggressiv, waren es nur noch 28 Prozent; und wenn die Aggressivität noch gesteigert wurde, antworteten nur noch 16 Prozent.

Auf der einen Seite gibt es Tatenlosigkeit, auf der anderen moralische Appelle.

Aus Untersuchungen wissen wir, daß die Bereitschaft zum Eingreifen steigt, sobald man das Opfer besser kennt. Nun sind solche Taten wie diese in Hamburg auch Phänomene einer Großstadtkultur. Dort fühlen sich die Menschen nicht ermutigt, wenn sie in einer U-Bahn ein Gesicht nur für kurze Zeit sehen.

Allenhalben wird ein Werteverfall beklagt. Gehen Sie auch so weit?

Ja, den Fall der 17jährigen würde ich in diesen Zusammenhang stellen. Es gibt Autoren, die eine völlig neue Form der Sozialität festgestellt haben. Mehr und mehr zerfällt die Gesellschaft in Individuen und partikulare Zusammenhänge. Margaret Thatcher, die frühere britische Premierministerin, hat das mal in einem Interview sehr prägnant zusammengefaßt: „There ist no such thing as society“ – so etwas wie Gesellschaft gibt es nicht.

Nun gibt es ja außer Appellen auch Institutionen, die Selbstverteidigung als Antwort preisen.

Ich bezweifle, daß man Zivilcourage an Volkshochschulen lehren kann. Es gibt aber offensichtlich ein Bedürfnis, Antworten zu finden. Ein Beispiel ist die US-Debatte um kommunitaristische Ideen. Die Realität geht aber leider in eine andere Richtung, hin zum Primat der ökonomischen und instrumentellen Rationalität. Interview: Severin Weiland