: Wenn der Hut bis zum Hals steht
■ Die Zirkusgruppe Compagnie Anomalie begeistert mit „Le Cri du Caméléon“auf Kampnagel
Natürlich kann man seinen Schuh auf dem Kopf tragen und in seinem Hut laufen. Aber wußten Sie auch, daß der Mensch, hätte er eine etwa kopfgroße runde Ausstülpung auf Höhe seines Gesäßes und würde dazu auf den Händen laufen, ein fast symmetrisches Gebilde wäre? Die Compagnie Anomalie beweist es: Normalität ist eine Frage der Anschauung.
Zwanzig Minuten hatte die junge französische Zirkusgruppe die Zuschauer am Donnerstag auf Kampnagel warten lassen, mit Blick auf eine schäbige Wand und die auf den Boden gezeichnete Andeutung eines Manegenrunds. Doch das Warten hat sich gelohnt und war bereits in der Sekunde des Auftritts der Artisten vergessen. Die kleine Wand spuckte sie aus, hinein in das Rund, das ihre Welt, ihr faszinierend eigenes Universum werden sollte. Zehn skurrile Figuren, denen der Hut bis zum Hals steht, Ausgeburten einer Vermählung von kafkaesk beunruhigenden Absonderheiten, chaplinesk liebenswürdiger Hilflosigkeit und Becketts fröhlichem Fatalismus, jonglieren um ihr Leben.
Der ungarische Choreograph Josef Nadj, seit sieben Jahren Leiter des Centre Choréographique National d–Orléans, hat mit zehn Abschlußschülern der staatlichen Zirkusschule Centre National des Arts du Cirque in Paris eine eigenwillige Performance erarbeitet. Nadj, der seit jeher Produktionen im Zwischenbereich von Tanz und Theater inszeniert, hat mit Le Cri du Caméléon die Genredurchlässigkeit noch einmal erweitert: Slapstick, Artistik und Jonglage werden in die bewegte Bilderwelt integriert.
Diese Integration der Kunststücke – so atemberaubend sie sind – in das typisch Nadjsche Universum von höflichen Melonenträgern macht Charme und Reiz der Vorstellung aus. Es gibt kein „Spot an für ...“, sondern ein genialisch getimtes Chaos, das durch permanente Parallelaktionen den Zuschauer allein läßt mit der Entscheidung, wo er jetzt staunen, lachen oder weinen soll. Besonders herzzerreißend ist die Musik, die mal sentimental, mal jazzig, mal groovig von den Künstlern an selbstgebastelten Instrumenten zwischen Alphorn und Benzinkanister eingespielt wird.
Die Compagnie Anomalie verkehrt die Verhältnisse: Hier jonglieren keine Künstler, sondern Künstler werden jongliert. Von Neugierde, Rhythmus und Leidenschaft. Und wenn die Körper der kleinen, traurigen Herren am Ende mit elegantester Nonchalance per Salto, Flip und Schraube zwischen Himmel und Erde kursieren, haben sie ein bißchen mehr als die Schwerkraft aufgehoben: Auch die Kategorien von oben und unten wurden vor der schäbigen Wand verschoben. Christiane Kühl
noch 17. bis 25. April, außer Mo, 20 Uhr, Kampnagel k6
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