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Verkehrsforscher auf neuen Wegen

Die Bundesregierung interessiert sich erstmals für den Menschen im Verkehr  ■ Von Stephan Rammler

Frau G. wohnt günstig. Zwei U-Bahn-Linien erreicht sie in wenigen Minuten zu Fuß, Busse halten vor der Tür, die S-Bahn ist nicht weit. Kürzlich ist die Anbindung noch besser geworden: Die U-Bahn fährt die ganze Nacht, die Buswartezeit hat sich verringert. Doch obwohl sie knapp bei Kasse ist und das Parkdrama in ihrem Kiez kennt, hat sich G. letzte Woche ein Auto gekauft.

Warum das? Frau G. ist alleinstehende Mutter einer zweijährigen Tochter und eines achtjährigen Sohns. Die Kinderkrippe ist nur einige Busstationen entfernt, aber im Bus ist kaum ein Plätzchen für den Kinderwagen zu finden, und die hohen Stufen erschweren das Einsteigen. Auch beim U-Bahn-Fahren ist sie auf gutwillige Passanten angewiesen, denn weder Fahrstuhl noch Rolltreppe stehen bereit. Sohn Felix könnte allein zur Schule gehen. Aber er muß auf dem Weg dorthin gefährliche Straßen überqueren. Radwege gibt es nicht, und auf den breitengenormten Fußwegen ist zwischen Querparkern und Hundehaufen Radfahren unmöglich. Frau G. begleitet ihn täglich.

Kinder bringen, Job, Kinder holen, Einkaufen, Arztbesuche: Die vielen Wege kann Frau G. nur mit dem Auto einigermaßen unter einen Hut bekommen. Auch die gebrechliche Nachbarin P. profitiert davon. Für sie kauft Frau G. jetzt manchmal mit ein. Auf dem Weg zum Supermarkt scheitert diese nämlich stets an der Fußgängerampel, die auf das Überquerungstempo von 0,83 m/sek. eingestellt ist. Oma P. kann nicht fliegen.

Frau G., ihre Kinder und die alte Nachbarin sind Beispiele für die von der Verkehrsforschung „vergessenen Mobilen“ der Bevölkerung. In Planung und Gestaltung von Verkehrsmitteln, Infrastruktur und Straßenraum sind ihre Mobilitätsbedürfnisse und -zwänge nicht einbezogen, weil die Verkehrsforschung davon schlichtweg nicht wußte oder wissen wollte. Nicht die Worte Kinderwagen, Schulweg, Alterssorgen und sexuelle Belästigung, sondern Verkehrsaufkommen, Personenkilometer, Kraftwagendichte und Beförderungsfall dominieren den Verkehrsplanerjargon. Diese Begriffsungetüme kennzeichnen die ausgesprochen technokratische, ökonomistische – und männliche – Ausrichtung der Verkehrswissenschaft in den letzten Jahrzehnten. Sprache ist Ausdruck und Bedingung unseres Denkens zugleich. Führt man sich das vor Augen, so wird deutlich, welch scheues Wesen sich dem analytischen Scharfblick der Verkehrsplaner, -techniker und -ökonomen bislang entzogen hat und warum: der Mensch als mobiles Individuum.

Über seine mobilitätsbezogenen Motive ist paradoxerweise so wenig bekannt, daß hierin womöglich eine wichtige Ursache für das Ausbleiben der Verkehrswende zu suchen ist. Nur wer die subjektiven Mobilitätsbedürfnisse und -zwänge von Frau G., ihren Kindern und der Nachbarin nicht kennt, wird sich angesichts des verbesserten ÖPNV-Angebotes über ihren Autokauf wundern.

Nun gibt eine Mobilitätsforschungsinitiative der Bundesregierung leisen Grund zum Optimismus: Der Verlauf eines vorbereitenden Workshops über Grundsatzfragen der Mobilitäts- und Verkehrsgestaltung läßt vermuten, daß Wissenslücken wie die oben beschriebene zukünftig gefüllt werden. Vorbereitet und organisiert wurde das Treffen von der Projektgruppe Mobilität am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung in Zusammenarbeit mit dem Referat „Grundsatz- und Querschnittsfragen der Mobilität“ des Forschungsministeriums.

Stadt- und Verkehrsplaner, Ökonomen, Techniker, Psychologen, Soziologen und Philosophen trafen aufeinander, um trefflich über Probleme der Mobilitätsforschung zu streiten. Gemeinsam sollten sie Wissenslücken und Forschungsbedarf entdecken und sich neue Formen der Zusammenarbeit ausdenken. Im Streit war man sich einig: Die Verkehrswissenschaft hat einen Haufen unerledigter Hausaufgaben zu bewältigen. Der Forschungsbedarf ist groß und vielschichtig – so sehr, daß er nur multidisziplinär geschafft werden kann. Die Gruppe verständigte sich deswegen darauf, neue Formen der Zusammenarbeit auszuprobieren, und an die Politik erging die Aufforderung, auch genügend Geld für die neue Verbundforschung zu spendieren.

Einig war man auch über den Bedarf an neuen Forschungswerkzeugen. Besonders das Anliegen, die Mobilitätsmuster einzelner Gruppen, zum Beispiel der vergessenen Mobilen, besser zu verstehen, kann nur mit Hilfe eines neuen Erhebungsdesigns erreicht werden. Deswegen müssen zukünftig quantitative Erhebungsverfahren mit Ansätzen der qualitativen, am Menschen und seinen Befindlichkeiten orientierten Sozialforschung verbunden werden.

Mindestens genauso wichtig wie das Zählen von Autos, Wegen, Wegezeiten und -längen, Wegezwecken etc. und mithin das Schielen auf Repräsentativität und Durchschnitte, ist das Verstehen. Rein subjektive Präferenzen, individuelle Aktivitätsmuster, Wegeketten und Mobilitätsroutinen spielen für den Verkehrsablauf eine weitaus größere Rolle als bislang erkannt. Hier sind die methodischen Kompetenzen der Sozialwissenschaften gefragt. Sie könnten künftig einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, die Besonderheiten von charakteristischen Bevölkerungsgruppen herauszuarbeiten. Diese sind schließlich die Zielgruppen verkehrspolitischer Konzepte zur Verhaltensänderung: Menschen, nicht Technologien bestimmen über die Zukunft des Verkehrs – und damit über seine Zukunftsfähigkeit.

Fänden die Ergebnisse des Arbeitstreffens Eingang in die inhaltliche Gestaltung der Forschungsinitiative, dann könnte die Menschwerdung des Beförderungsfalls bald zentraler Programmpunkt in der Verkehrswissenschaft sein. Zeigen wird es sich in der Ausgestaltung der Förderpolitik.

Skeptiker teilen diese Hoffnung noch nicht. Der Berliner Verkehrswissenschaftler Eckhart Kutter kann auch in der neuen Forschungsinitiative kaum etwas entdecken, was nicht schon in den 70er Jahren beforscht worden ist. Besonders übel stößt dem TU-Professor auf, daß sich immer alle auf die tägliche Verkehrsmittelwahl stürzen. Dabei werde übersehen, daß die eigentlichen Ursachen für die Nutzung von Verkehrsmitteln oft viele Jahre zurücklägen und bei der Entscheidung über Wohnsitz oder Arbeitsplatz unbewußt mitgetroffen würden.

Die anvisierten neuen Wege und Ziele strategischer Wissenschaftsplanung sind daher zwar gut. Was aber, fragen die Kritiker, wenn es bei Lippenbekenntnissen bleibt? Mißtrauische wittern Verschwörung. Für sie ist die Initiative letztlich nichts anderes als ein Feigenblatt politischer Untätigkeit nach dem Motto: „Wer zehn Jahre forscht, braucht zehn Jahre nicht zu handeln.“

Ein zweiter Kritikpunkt wiegt schwerer: Im „Eckwertepapier zur zukunftsorientierten Mobilitätsforschungspolitik“ finden sich zwar lobenswerte Absichtserklärungen zur Förderung von Interdisziplinarität und stärkerer Einbindung sozialwissenschaftlicher Kompetenzen. Doch nach wie vor überwiegt technizistisches Denken, das den heutigen Problemen einfach nicht mehr gerecht wird. „Effizienz“, „Entkopplung“, „Schlüsseltechnologie“ und „Globalisierung“ – das ist die deutliche Sprache technikverliebter Ingenieure und wachstumsfixierter Ökonomen. Neue Technik bedeutet innovative Produkte, neue Produkte stärken den Standort Deutschland. Diese Logik ist eingängig, erst recht in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Aber sie beschreibt nur die eine Seite der Medaille. Denn soziale, ökologische und ökonomische Zukunftsfähigkeit wird sich langfristig nur über einen grundlegenden Wandel von Wirtschaftsweise, Lebensstilen und Raum- und Siedlungsstrukturen herstellen lassen.

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