: Hemmungslos überwachen
■ Gegen die Abhör-Inflation hilft Erfolgskontrolle
Höher, schneller, weiter – was ganz allgemein als gesellschaftliche Maxime gilt, hat sich spätestens im letzten Jahr auch als Parole in der Polizei durchgesetzt. Etwas verschämt muß die Kripo jetzt via Bundesjustizministerium zugeben, daß sie im letzten Jahr einen Rekord der besonderen Art aufgestellt hat. Nie wurden in Deutschland mehr Telefonanschlüsse abgehört als 1996, und dies alles ganz ohne Großen Lauschangriff, die Lauschaktionen der diversen Geheimdienstler gar nicht mitgerechnet.
Es darf bezweifelt werden, daß dieses massenhafte Abhören tatsächlich einer Steigerung krimineller Aktivitäten entspricht. Hier dürften sich vielmehr die Auswirkungen der Debatten um den Großen Lauschangriff zeigen, die ganz offensichtlich die Hemmschwellen beim normalen Telefonabhören erheblich gesenkt haben. Das verdeutlicht der Vergleich über einen längeren Zeitraum: Zu Hochzeiten bundesdeutscher Anti-Terror-Hysterie im Deutschen Herbst 1977 wurden in der Bundesrepublik 511 Abhörgenehmigungen ausgestellt. Im letzten Jahr waren es 6.428.
In der Debatte um den Großen Lauschangriff hat die SPD zu Recht gefordert, man solle sich bei der Genehmigung solcher Angriffe auf die Privatsphäre an dem US-Modell orientieren – an der Erfolgskontrolle. Damit ist gemeint, daß der Richter, der eine Abhöraktion genehmigt, auch das weitere Verfahren überwacht und letztendlich auch feststellt, ob die ganze Aktion Sinn machte und welche Kosten damit verbunden waren. Hier zeichnet ein Richter eine Telefonüberwachungsmaßnahme ab und hört dann nie wieder davon. Weder erfährt er, ob die Verdächtigungen, die die Polizei erhoben hat, zu Recht bestanden, noch weiß er, was das Ganze dem Steuerzahler zu guter Letzt wert war. Es kann im Einzelfall zur Bekämpfung schwerer Kriminalität sicher sinnvoll sein, Telefone abzuhören. Gefährlich wird es, wenn aus dem Einzelfall ein Massenphänomen wird. Statt erst für zukünftige Große Lauschangriffe auf ein solches Verfahren zu drängen, spricht angesichts der jetzt vorliegenden Zahlen alles dafür, die Richter auch bei den bestehenden Verfahren in die Verantwortung einzubinden. Aus den USA weiß man, daß die Neigung zum schnellen Abhören dann erheblich abnimmt. Jürgen Gottschlich
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