Impressionen einer Reise nach Engels

Hoffnungen, Wünsche und Vorstellungen einer russischen Familie in der Zeit der Präsidentschaftswahlen im Juli 1996. Für ihren Alltag ist die Politik im Kreml nicht von großer Bedeutung  ■ Von Verena Wagner

Am 5. Juli 1996 beginnt für mich ein großes Abenteuer, ich fahre zum ersten Mal nach Rußland. Zwei Tage zuvor haben die russischen Präsidentschaftswahlen stattgefunden. Nach einem harten Kopf-an-Kopf-Rennen des Amtsinhabers Boris Jelzin mit dem Kommunisten Gennadi Sjuganow, entschied ein Dritter, wer die Regierung übernehmen sollte. Der Exgeneral Alexander Lebed, der im ersten Wahlgang als drittstärkste Kraft hervorgegangen war und sich dann auf die Seite Jelzins gestellt hatte, spielte das Zünglein an der Waage. Der bisherige Präsident wurde im Amt bestätigt...

Wenig später reisen wir mit dem Zug an die Wolga. Wir erreichen unseren Zielort Saratow, etwa 750 Kilometer von Moskau entfernt, nach 16 Stunden Fahrt. Unsere Gastfamilien warten am Bahnhof schon auf uns. Ich erfahre, daß ich bei Marina wohnen werde. Sie ist 16 Jahre alt und kommt gerade in die elfte Klasse, der Abschlußklasse in Rußland. Mit ihren Deutsch- und meinen Russischkenntnissen können wir uns recht gut verständigen. Der Bus bringt uns an das andere Wolgaufer, nach Engels. Die kleine Stadt ist eine Neubauwüste, die nicht nur wegen ihrer grauen, einfallslosen Architektur trist wirkt. Die Straßen sind mit Schlaglöchern übersät, viele Gebäude scheinen langsam zu verfallen.

Unvermittelt kommt mir der Begriff Perspektivlosigkeit in den Sinn. Kann man hier wirklich sein ganzes Leben verbringen? Die Disko im Kulturhaus haben unsere Gastgeber selbst organisiert. Ansonsten gibt es in Engels nicht viele Möglichkeiten, die Freizeit sinnvoll zu verbringen. Kulturelle Angebote kann ich nicht entdecken, kein Kino, kein Theater, keine Klubs. Was machen die Jugendlichen hier am Abend und in den Ferien? Marina erzählt, daß im Sommer der Wolgastrand Treffpunkt Nummer eins sei. Im Winter sind die Möglichkeiten natürlich noch eingeschränkter. Für die russischen Schüler ist unser Besuch daher ein ganz besonderes Ereignis, an dem auch Verwandte und Bekannte regen Anteil nehmen...

Ich frage mich, inwiefern die politischen Ereignisse, von denen wir aus Rußland so viel gehört haben, für die jungen Leute wichtig sind. Bei einem Spaziergang durch Saratow spreche ich Marina auf die Präsidentschaftswahlen an. Sie erzählt mir offen, daß sie froh über Jelzins erneuten Sieg ist. Schließlich habe er die Öffnung des Landes nach Westen vorangetrieben. So könnten auch hier die Menschen westliche Produkte kaufen, selbst wenn diese oft überteuert sind.

Meine Gastschwester hält es für wichtig, daß sich Rußland nicht vor Westeuropa und den USA verschließt, daß vielmehr Kontakte geknüpft und vielleicht auch Ideen ausgetauscht werden. Ihr Heimatland, so meint sie, dürfe sich nicht von der restlichen Welt abkapseln.

Für sich selbst erhofft sich Marina davon vor allem die Möglichkeit, einmal ins Ausland, nach Deutschland, Frankreich oder England, fahren zu können. Auch ihre berufliche Zukunft, sie möchte später als Deutschlehrerin oder Dolmetscherin arbeiten, wäre bei solch einem politischen Kurs etwas sicherer. Marina schlägt mir vor, mit ihrer Familie ebenfalls über das Thema zu sprechen. So bekomme ich von meiner Gastmutter, einer gemütlichen und herzensguten Russin, einen ganz anderen Standpunkt dargelegt. Ihrer Meinung nach wäre eine kommunistisch orientierte Regierung, zum Beispiel mit Sjuganow an der Spitze, besser gewesen. Sie begründet diese Einstellung mit einem einfachen, aber durchaus schlagkräftigen Argument. Ihre Familie, so erklärt sie mir, hätte auch vor der politischen Wende nie viel besessen. Aber wenigstens hätten sie und ihr Mann Arbeit in einem technischen Betrieb gehabt. Heute findet meine Gastmutter nur ab und zu eine Beschäftigung. Sie verbringt den Tag mit der Versorgung ihrer Familie, erledigt Hausarbeiten oder sucht beim Einkauf nach preiswerten Lebensmitteln. Mein Gastvater, früher sogar Abteilungsleiter in seinem Betrieb, ist nur noch ein einfacher Arbeiter. Er schuftet sprichwörtlich von früh bis spät, um wenigstens etwas Geld nach Hause zu bringen. Von den Reformen des Präsidenten Jelzin bekommt man in Engels scheinbar nur die negativen Folgen zu spüren. Die Hoffnungen der Familie richten sich auf Marina und ihre 21jährige Schwester. Vielleicht könnte wenigstens sie von der derzeitigen Westorientierung profitieren. Bei den Gesprächen stelle ich aber auch fest, daß das Geschehen im Kreml für das alltägliche Leben nicht von großer Bedeutung ist. Man mache sich zwar durchaus Gedanken, meint Marina, aber im Grunde stünden eine gute Ausbildung, das Familienleben und der Freundeskreis im Vordergrund. Im Gegensatz dazu ist bei meinem Gastvater das Interesse für Politik größer. Ich bin erstaunt, als er mir erzählt, daß Grigori Jawlinskis Ideen wohl nicht schlecht wären. Aber wer würde den schon wählen. Tatsächlich erreichte der Vorsitzende der liberalen Bewegung „Jabloko“ (der Apfel) nur einen geringen Prozentsatz an Stimmen. Als überzeugter Marktwirtschaftler ist er in Rußland bei vielen nicht sehr beliebt.

Ein Wochenende verbringe ich mit meiner Gastfamilie auf der Datsche. Sie bauen sich gerade ein kleines Häuschen. Den großen Garten haben sie erst nach der Wende gekauft. Obst und Gemüse sind so teuer, daß man es besser selbst anbaut, als dafür auf dem Markt Geld auszugeben. Die Nachbarn halten sich in einem Verschlag sogar Hühner und ein Schwein. Am Abend reden wir noch ein wenig über verschiedene Dinge. Als sich das Gespräch wieder um die Lebenssituation in Rußland dreht, bemerkt der Mann von Marinas älterer Schwester lakonisch: „Uns ging es vor der Wende nicht gut, und jetzt, nach der Wende, geht es uns auch nicht gut. Wir leben hier wie in Afrika.“ Wir lachen, denn an diesem Tag sind 45 Grad Celsius, und bis zur Dämmerung wird es nicht viel kühler. Aber im Grunde ist es ein bitteres Lachen, weil auch der russische Lebensstandard oftmals nicht weit von dem in der sogenannten Dritten Welt entfernt zu sein scheint.

Meine Zeit in Engels vergeht viel zu schnell, und ehe ich mich versehe, sitze ich schon wieder im Zug, der uns zurück nach Moskau bringt. Der Abschied fällt uns allen schwer. Ich werde mehrmals eingeladen wiederzukommen. Und Marina verrät mir, daß es für sie die schönsten Sommerferien waren, weil wir gemeinsam viel erlebt und unternommen haben.

Ich kehre mit den verschiedensten Eindrücken heim, und es dauert eine Weile, bis ich mich wieder in Deutschland zurechtfinde.

Fast ein Jahr später ergibt sich eher durch Zufall die Gelegenheit, zusammen mit einer Freundin eine Gesprächsrunde zu besuchen, in der über die Zukunft Rußlands diskutiert wird. An der in Potsdam stattfindenden Veranstaltung nehmen nicht nur der deutsche Rußlandexperte Gerd Ruge und der russische Schriftsteller Lew Kopelew teil, auch der russische Politiker Grigori Jawlinski ist anwesend.

Als er von seinen demokratischen und wirtschaftlichen Vorstellungen spricht, muß ich an meine Gastfamilie denken. Würde dem Land eine Regierung mit ihm an der Spitze zu einer positiven Entwicklung verhelfen? Ich weiß es nicht. Aber ich merke mir einen Satz von Jawlinski besonders gut, in dem er betont, daß Rußland nicht so sehr die finanzielle als vielmehr die intellektuelle, moralische und politische Hilfe benötige, die Erfahrung der westlichen Länder. Vielleicht läßt sich auch durch das Zusammentreffen von Jugendlichen im Rahmen eines Schüleraustauschs ein Schritt in die richtige Richtung machen.