: Broken Boulevard
■ Mix aus "Bild" und "SZ": Mit neuem Layout und längeren Texten begegnet die "Abendzeitung" dem Auflagenschwund
Der Patient Boulevardjournalismus ist krank. Die Diagnose lautet: akuter Auflagenschwund. Während vor zehn Jahren noch täglich 6,3 Millionen Boulevardblätter über den Tisch gingen, sind es heute nur noch 5,8 Millionen. Ein Verursacher ist auch schon ausgemacht: das Privatfernsehen nämlich, dessen marktschreierischer Sensationsjournalismus die fetten Schlagzeilen am nächsten Morgen überflüssig macht. So einfach ist das also.
Nicht ganz. Zwar behauptet das Branchenblatt w&v, daß „alte Leser das Kaufen aufgeben“ und sich „die Jungen von den bunten Bildern des Privatfernsehens beeindrucken lassen“, warum dann aber ausgerechnet die Bild-Zeitung, deren Hang zu Schmutzkampagnen aller Art auch 20 Jahre nach Wallraffs Gruselgeschichten ungebrochen ist, als einziges Blatt im letzten Jahr ein Plus machte, vermag es nicht zu erklären.
Der Leser, das unbekannte Wesen. Genauso verschieden wie die Gründe für die Erfolglosigkeit der Kaufzeitungen sind die Konzepte, ihr zu begegnen: Zunächst probierte es Gruner+Jahr beim Berliner Kurier mit Service statt Mord und Totschlag. Weil der Flop der Superzeitung gezeigt hatte, daß die Ost-Leser nur bedingt für deftige Schlagzeilen zu haben sind, setzte Chefredakteur Wieland Sandmann auf „Lebenshilfe“. Doch irgendwie ging auch diese Rechnung nicht auf. Sandmann wurde Anfang des Jahres entlassen, und die Auflage des Kuriers ist derart geschrumpft, daß man den Redakteuren bereits vorschlug, doch für weniger Geld zu arbeiten.
Auch in Hamburg war G+J glücklos. Obwohl der neue Chefredakteur der Hamburger Morgenpost, Matthias Döpfner, schwungvoll die halbe Redaktion durch Jungdynamiker vom eigenen Schlag ersetzte und die Zeitung mit Titelgeschichten über tote Teebeutel-Erfinder und ominöse Killer-Pizzen auf Realsatire trimmte, rutschte die Auflage im letzten Jahr von eh schon mageren 151.618 auf 145.294 Exemplare.
Bei der Münchener Abendzeitung beschreitet man seit Anfang der Woche einen dritten Weg – „irgendwo zwischen klassischer Abonnements- und Boulevardzeitung“ – um dem virulenten Gewichtsverlust zu begegnen: Innerhalb weniger Jahre rutschte die Auflage um fast 50.000 Exemplare auf nunmehr rund 196.000. Womit der Werbeclaim von der „meistverkauften Zeitung Münchens“ schon bald obsolet sein dürfte. Schließlich sitzt der AZ die Süddeutsche Zeitung nicht nur räumlich im Nacken, teilt man sich doch sogar kollegial die Kantine. Da fällt Kritik naturgemäß schwer. „Verstärkt Politik auf Seite 3: richtig und lobenswert“, lobte denn auch der SZ-Kollege altväterlich die neue Abendzeitung.
Information statt Sensation lautet dort das Motto, weswegen man das Blatt in vier Bücher gegliedert hat: „Kultur“, „München“, „Sport“ und ein Sammelsurium namens „Heute“. Noch nicht mal mehr ein Pin-up-Girl steht am Broken Boulevard, statt dessen setzt Chefredakteur Uwe Zimmer auf längere Texte und ein klareres Erscheinungsbild. Aus sechs Zeitungsspalten wurden sieben, über dem Zeitungstitel steht nun eine sogenannte Anreißerliste, und selbst kurzatmige Artikel peppte der Hamburger Grafiker Wolf Dammann mit vier verschiedenen Schriften auf. Und weil man noch ganz viele Kästchen und Rubriken über die Seiten gestreut hat, sieht die Boulevardzeitung, die keine Boulevardzeitung mehr sein möchte, nun ein bißchen aus wie die Hamburger Woche, a little bit like USA Today und insgesamt wie ein Zwitter aus WAZ und Neuer Westfälischen. Selbst die Kachelmann- Freunde aus der ersten Reihe können sich freuen, darf doch der geschwätzige Wetterfrosch nun seine eigenen Satellitenbilder malen.
„Sex sells – das klassische Mittel, Auflage zu machen, klappt nicht mehr. Die Leute sind inzwischen so viele Tabubrüche gewöhnt, da der Sensationseffekt der Kaufzeitungen nicht mehr wirkt“, sagt Chefredakteur Zimmer, und da es ihm natürlich vor allem um die jungen, gutverdienenden Leser geht, die immer so verdammt wenig Zeit zum Lesen haben, aber doch bestens informiert werden wollen, hat er noch a bisserl Uni- und Szeneklatsch hinzugegeben.
Für den Erfolg sollen auch neue Journalisten sorgen: darunter der ehemalige taz-Autor Philipp Maußhardt und ab Mai Tagesspiegel-Reporter Harald Martenstein als Kulturchef, der sich aber in Zukunft wohl etwas kürzer fassen muß. „So lange Texte wie beim Tagesspiegel kann ich in München nicht mehr schreiben.“
Gut möglich, denn zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft auch bei der neuen Abendzeitung zuweilen eine große Lücke. So wird ein Text, der den Begriff Fundamentalismus ins Beliebige dekliniert, ja nicht dadurch schlauer, daß er nach dem Relaunch von der Witz- auf die Reportageseite gewandert ist. Oliver Gehrs
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