: „Wir haben doch jetzt Demokratie“
Heute wird in Bulgarien ein neues Parlament gewählt. Im Süden tritt eine Partei der türkischen Minderheit an. Auf ihrer Liste kandidierte auch ein bekannter Mafioso, der gerade verhaftet wurde ■ Aus Kardzali Barbara Oertel
Genüßlich zieht der kleinwüchsige Mann an seiner Zigarette. Vor ihm, auf einem Holztisch, stehen mehrere Gläser mit Honig, daneben liegen Nüsse, Eier, Bohnen und Quark. Hassan Achmed ist Türke mit einem bulgarischen Paß. Fast täglich kommt er aus seinem Heimatdorf hierher ins nahegelegene Kardzali, um auf dem Markt seine Waren zu verkaufen. Die Stadt im Süden Bulgariens, circa 60 Kilomter von der türkischen Grenze entfernt, hat rund 55.000 Einwohner. Davon sind 5.000 Türken. In der gesamten Region liegt das Verhältnis zwischen Türken und Bulgaren bei 50 zu 50.
Wie die meisten Türken hier verdiente Hassan früher seinen Lebensunterhalt im Tabakanbau. Als dann die Aufkaufpreise für Tabak rapide sanken, verlegte er sich auf die Landwirtschaft und hat jetzt eigene Kühe, Schafe, Ziegen und Pferde, insgesamt 90 Tiere, wie er stolz berichtet. „Damit kann ich wenigstens meine Familie ernähren. Und es hängt doch nur von mir selbst ab, wieviel ich verdiene“, sagt er. Im Vergleich zur Zeit vor 1989, als er in einem staatlichen Betrieb arbeitete, habe sich seine Situation verbessert. Und es gehe weiter bergauf. Deshalb will er heute bei den Parlamentswahlen für die Union der Demokratischen Kräfte (SDS) stimmen. „Die sind für Demokratie.“
Als die Rede auf Achmed Dogan kommt, den Vorsitzenden der Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS), die als Sprachrohr der Türken in dieser Region eine ihrer Hochburgen hat, verzieht Hassan Achmed das Gesicht. „Dogan ist doch korrupt. Aber dafür brauchen die Politiker hier in Bulgarien ja auch nicht lange. Zwei Jahre reichen schon.“
Ein paar Schritte weiter sitzt ein junger Mann auf einem leeren Verkaufstisch und wärmt sich an den ersten Strahlen der Aprilsonne. Melin Sali ist seit sechs Monaten arbeitslos. Jetzt kümmert er sich um seine kranke Mutter. „Wir haben Verwandte im Dorf. Die helfen uns mit Lebensmitteln. Sonst würden wir es nicht schaffen“, erzählt er. An eine bessere Zukunft für sich glaubt er schon lange nicht mehr, und von Politik will er nichts hören. „Wen sollte ich wohl wählen, die DPS vielleicht?“ sagt Melin Sali und spuckt verächtlich auf den Boden. Auch die Hoffnung, in die Türkei auszuwandern, hat der 32jährige mittlerweile begraben. „Dafür habe ich kein Geld.“
Mitte der 80er Jahre entfachte die kommunistische Regierung unter dem Altdiktator Todor Schiwkow eine beispiellose Kampagne gegen die Türken. Sie wurden dazu gezwungen, ihre Namen „bulgarisieren“ zu lassen und waren tagtäglichen Schikanen und Diskriminierungen ausgesetzt. In Kardzali schossen Milizionäre damals bei einer Protestversammlung der Türken in die Menge und töteten 17 Menschen. Die Verantwortlichen sind bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen. In der Folgezeit emigrierten rund 400.000 Angehörige der türkischen Minderheit in die Türkei, in manchen Regionen waren das 50 Prozent der dortigen türkischen Bevölkerung. Anfang der 90er Jahre waren es dann die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse, die viele Türken dazu bewegten, das Land zu verlassen. Mittlerweile ist die Zahl der Ausreisewilligen zurückgegangen. Der Grund dafür liegt heute auch in der „Abschottungspolitik“ der Türkei. So bekommen nur noch diejenigen, die vor dem 1. Januar 1993 in die Türkei ausgewandert sind, die türkische Staatsbürgerschaft.
Melin Sali ereifert sich. „Die Zeitungen schreiben, daß wir Probleme mit den Bulgaren hätten. Doch das ist eine Lüge.“ Er zeigt auf einen bärtigen Mann, der hinter einem Tisch mit Schrauben, Kabeln, Steckdosen und Werkzeug kauert. „Der da ist Bulgare. Und er ist mein Freund. Egal, ob Ramadan oder orthodoxe Ostern – wir feiern alle Feste zusammen.“ Der Angesprochene nickt zustimmend. „Die Zeitungen liefern objektive Informationen. Daß ich nicht lache. Bulgarien ist wie eine Pfütze. Von oben sieht das Wasser sauber aus. Doch wenn man mit dem Finger drin herumrührt, kommt der ganze Dreck hoch.“
Den kleinen, holprigen Weg, der vom Markt zur Hauptstraße führt, säumen Schuhputzer. Die meisten von ihnen haben gerade nichts zu tun und spielen daher gelangweilt mit ihren Bürsten oder lesen Zeitung. An einer Straßenecke stehen drei Polizisten und unterhalten sich lautstark. „Sie haben sich für Ihren Besuch den besten Tag ausgesucht“, sagt einer grinsend und deutet mit dem Finger auf das gegenüberliegende Haus. „Café Paris“ steht in großen, bunten Buchstaben über dem Eingang. Der Boden vor dem Café ist mit Glassplittern übersät. Am Vortag hat die Polizei hier in einer Blitzaktion den stadtbekannten Mafiaboss Erschan Raschid Roko verhaftet. Dem „reichsten Türken Bulgariens“, wie Roko genannt wird, gehören in Kardzali zahlreiche Spielbanken, Wechselstuben und Autohäuser. Schon seit über einem Jahr hatte die Polizei den Mafiaboss gejagt. Jetzt fielen den Polizisten im Café außer Roko auch noch Pistolen, Munition, Handgranaten und Maschinengewehre in die Hände. Und in Rokos Wohnung fanden die Beamten bündelweise gefälschte Banknoten im Wert von 413.000 Mark und 20.000 Dollar. „Der Mann hat die ganze Stadt terrorisiert, alle hatten Angst vor ihm. Das ist jetzt hoffentlich vorbei“, sagt einer der Polizisten und fügt hinzu: „Die ganze Geschichte könnte für die DPS ziemlich unangenehm werden. Roko hat bei denen ja sogar auf der Kandidatenliste gestanden.“
Im Eingang eines schmutziggrauen Gebäudes, einst Sitz verschiedener Organisationen der Kommunisten und heute Quartier für zahlreiche politische Parteien, baumelt ein Pappschild mit der Aufschrift „Hier gibt es Brot“. Der langgezogene Flur im zweiten Stock ist nur schwach beleuchtet, von den graugetünchten Wänden ist an vielen Stellen der Putz abgeblättert.
Ein junger Mann öffnet: „Eigentlich haben wir jetzt eine Stunde Mittagspause, aber kommen Sie doch herein“, sagt er und bittet ins Nebenzimmer. Auf einem langen dunkel gebeizten Holztisch stehen vereinsamt einige Flaschen mit Limonade, auf den Fensterbrettern und Regalen stapeln sich Broschüren und Flugblätter. Von den Wänden lächelt der DPS-Vorsitzende Achmed Dogan und fordert zur Stimmabgabe für das Bündnis Vereinigung zur nationalen Rettung (ONS) auf, dem auch die DPS angehört.
Ramadan Karakasch, Vorsitzender der DPS von Kardzali und Leiter des Wahlstabes, zündet sich eine Zigarette an. „Roko“, sagt er und nestelt nervös an seinem Feuerzeug, „der hat mit der DPS nichts weiter zu tun.“ Scheinbar hat Karakasch an diesem Tag noch nicht die Zeitungen studiert. Darin nimmt DPS-Chef Achmed Dogan zur Verhaftung des Mafioso Stellung. Diese Aktion, wettert Dogan, sei vom Innenministerium gerade jetzt im Wahlkampf inszeniert worden. Mit der Festnahme Rokos, dessen Engagement für die DPS bekannt sei, werde nur die türkische Minderheit diskreditiert.
Bei den letzten Parlamentswahlen stimmten in Kardzali und Umgebung 78 Prozent der Wähler für die DPS, die vier Abgeordnete ins Sofioter Parlament schicken konnte. „Unser größtes Problem hier ist die hohe Arbeitslosigkeit. Die liegt in manchen Dörfern bei 50 Prozent. Der Hauptgrund dafür ist die schlechte Infrastruktur in dieser Gebirgsregion. Deshalb brauchen wir dringend ein Gesetz zur Wirtschaftsentwicklung, damit sich auch kleineres und mittleres Gewerbe hier etablieren können,“ sagt Karakasch. Und dann fügt er noch hinzu: „Wir, die DPS, vertreten genauso die Interessen der Bulgaren wie die der Türken.“
In diesem Moment öffnet sich die Tür. Noch ganz außer Atem kommt ein älterer Mann hereingestürmt und läßt sich erschöpft auf einen Stuhl fallen. Achmed Jussein, Kandidat der DPS und zweiter auf der Liste, kommt gerade von einem Besuch in einem der umliegenden Dörfer zurück. „Die Menschen sind müde“, sagt er. „Sie haben zu viele Versprechungen gehört, und nichts davon hat sich erfüllt.“ Er dreht sich um und angelt nach einem Plakat mit seinem Foto. „500 davon habe ich drucken lassen. Auf meine eigenen Kosten.“ Laut Gesetz stellt der Staat jedem Kandidaten nur 30.000 Lewa (knapp 40 Mark) für Wahlkampfzwecke zur Verfügung. „Damit komme ich ja nicht mal nach Sofia und wieder zurück“, sagt Jussein. Er steht auf und verabschiedet sich. Er muß ins nächste Dorf, nach Komuniga.
Komuniga, 25 Kilometer von Kardzali entfernt, hat 2.000 ausschließlich türkische Einwohner. Eine Frau treibt mit einem Stock drei Ziegen die abschüssige Straße hinunter. Auf einer Bank sitzen drei alte Männer. „Die Versammlung ist im Jugendklub“, sagt einer von ihnen. Vor dem Jugendklub, einem langen flachen Gebäude, das schon länger keinen Anstrich mehr gesehen hat, steht eine Gruppe von Männern. Einer fuchtelt aufgeregt mit den Armen. Heute scheinen alle nur ein Thema zu kennen, und das heißt: Roko.
Im Saal des Klubs, aus dem auch ein alter rostiger Ofen die Kälte nicht vertreiben kann, sitzen etwa 100 Männer eingezwängt in Stuhlreihen. Eine Frau erläutert das Wahlsystem und hält Zettel in die Höhe. Danach ergreift ein Vertreter der DPS das Wort. „Laut den Gesetzen in Bulgarien ist es zwar verboten, öffentliche Versammlungen in türkisch abzuhalten, aber wir hier richten uns nach den Menschenrechten, und die gelten überall“, poltert der Mann. An der Eingangstür steht ein junger Mann und verfolgt aufmerksam das Geschehen im Saal. „Die DPS muß ins Parlament. Sie kann am besten unsere Interessen verteidigen“, sagt er. Will er auch für die Partei von Achmed Dogan stimmen? „Darauf gebe ich keine Antwort. Wir haben jetzt doch Demokratie, oder?“
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