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Langsames Sterben in Moabit

In den alten Industriegebieten zwischen Sickingenstraße und Spree geben immer mehr Fabriken auf. Im Beusselkiez herrscht Depression. Von Süden drängen Dienstleistungsbetriebe nach  ■ Von Hannes Koch

Auf der Sickingenstraße in Moabit kann man Federball spielen. Selbst im Berufsverkehr um 15 Uhr reicht der Abstand zwischen zwei Lastern, um einen raschen Ballwechsel auf dem Asphalt hinzulegen. Früher eine der belebtesten Industrieadressen der Stadt, lädt die Sickingenstraße mittlerweile zu beschaulichen Spaziergängen durch den Kiez ein.

Die Fabrikstraße steht ganz im Zeichen eines sterbenden Konzerns. An alten Industriekathedralen und modernen Produktionsgebäuden prangt der Schriftzug „AEG“. Doch die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft existiert nicht mehr. Im vergangenen Jahr wurde sie vom letzten Besitzer, dem Daimler-Konzern, abgewickelt. Die Reste kämpfen um das Überleben: Dem 670-Leute-Betrieb AEG Mobile Communication (AMC) will der französische Matra-Konzern jetzt das Licht ausblasen. Bald soll hier die Handy- Fertigung eingestellt werden. „In dieser Gegend herrscht der große Ausverkauf“, sagt AMC-Betriebsrat Wolfgang Lachmann. In wenigen Stadtteilen sind Deindustrialisierung, Verwahrlosung und Strukturwandel so spürbar wie in Moabit zwischen dem Westhafen im Norden und der Kaiserin-Augusta-Allee im Süden.

Die Besichtigung gleicht einer Zeitreise. An der Sickingenstraße dominieren noch die alten Betriebe der Elektroindustrie, die freilich immer mehr Arbeitsplätze verlieren. Die Herstellung von Kurz- und Langwellensendern bei Telefunken liegt im Sterben. Das benachbarte frühere AEG-Werk für Radioröhren und Kondensatoren beschäftigt von ehemals 2.000 heute noch 350 Leute. Relativ unangefochten arbeitet einzig noch die Fabrik von Siemens/KWU, die hochmoderne Gasturbinen fertigt.

Südlich schließt sich eine Region an, in der Alt und Neu miteinander kämpfen. In der Rothmans- Zigarettenfabrik an der Wiebestraße machen die letzten Beschäftigten gerade die Hallen besenrein. Der Papierhersteller Herlitz hat schon vor Jahren das Weite gesucht und produziert jetzt verkehrsgünstig in Falkensee. Auf Teilen des Geländes ist es dem Senat gelungen, einen Hightech-Park zu gründen, in dem unter anderem die Multimedia-Agentur Pixelpark Internet-Werbung herstellt. Doch gleich nebenan in der Beusselstraße herrscht die pure Depression. Im unteren Teil der Straße ist fast jeder Laden mit kaputten Jalousien verrammelt. Die Häuser verfallen, und auf manchem Briefkasten kleben Zettel der Neonazi- Kameradschaft Beusselkiez.

Am Spreeufer schließlich wachsen die Glaspaläste. In glitzernden Bürohochhäusern residieren jetzt die VHV-Versicherung sowie die Verwaltungen der Baukonzerne Klammt und Wayss & Freytag. Gärtner bepflanzen die Uferpromende mit Ziersträuchern.

AMC-Betriebsrat Lachmann freilich will dem Vormarsch der Dienstleistungsnutzung Widerstand entgegensetzen. Daß die Handyfabrik geschlossen wird, ist für ihn noch keine beschlossene Sache. „Die Belegschaft könnte den Betrieb übernehmen“, sagt Lachmann. Man will mit dem französischen Eigentümer Matra verhandeln, zu welchem Preis er die Maschinen und Anlagen an die Beschäftigten verkaufen würde. Vom Betriebsrat zum Unternehmer? „Nein, ich fühle mich auf der Seite der Arbeitnehmer wohler“, meint dagegen Betriebratsfrau Gabriele Bieber-Langenströher. Nicht zuletzt deshalb, weil auch die Belegschaft als Eigentümerin angesichts des Kostendrucks einen Personalabbau nicht vermeiden könnte.

So wird die Zahl der IndustriearbeiterInnen in Moabit weiter sinken. Betrieb ist auf der Sickingenstraße nur noch, wenn die AEG- Beschäftigten für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze demonstrieren.

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