: Wahl ohne Labour und Tories
Obwohl die Nationalisten die Mehrheit in der nordirischen Provinz Mid-Ulster stellen, gewinnt seit 1974 stets ein Unionist den Wahlkreis ■ Aus Coalisland Ralf Sotscheck
Der Ort ist wie ausgestorben. Nur vor der stillgelegten Kornmühle, die nun ein Industriemuseum ist, liegen zwei Jugendliche im Gras und warten auf Touristen. Seamus und Cahal gehen noch zur Schule, aber an Wochenenden verkaufen sie Eintrittskarten für das Museum in Coalisland, um das Taschengeld aufzubessern. Aber welcher Besucher verirrt sich schon im April in das verschlafene nordirische Nest an der Südwestspitze des Lough Neagh.
Der Ort hat keine 7.000 Einwohner, mehr als ein Viertel ist unter 14 Jahre alt. Weil Coalisland zum Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland gehört, dürfen die Bewohner am nächsten Donnerstag einen Abgeordneten für das Londoner Unterhaus wählen. Das ist auch schon die einzige Gemeinsamkeit, die Coalisland mit englischen Ortschaften ähnlicher Größe aufweist. Es ist kein normaler Wahlkampf, Labour und Tories kandidieren erst gar nicht. Es geht um Unionisten gegen Nationalisten – die einen sind für die Union mit Großbritannien, die anderen für ein vereintes Irland. Die einen sind protestantisch, die anderen katholisch. Aber so einfach, wie es klingt, ist es denn doch nicht. Auf beiden Seiten herrscht auch untereinander ein harter Konkurrenzkampf.
Wenn man von der Kreisstadt Dungannon nach Coalisland kommt, merkt man sofort, daß der Ort zum nationalistischen Lager zu rechnen ist. Auf dem Ortseingangsschild steht in irischer Sprache: hOileán An Ghuail – die Kohleninsel. Im 17. Jahrhundert begann man, in Coalisland Kohle abzubauen. Ortsansässige Geschäftsleute hatten damals mit dem Erzbischof von Armagh eine Bergbaufirma gegründet. Der Kirche gehörte nämlich das Land, unter dem das ergiebigste Flöz lag. 1744 baute man einen Kanal, um die Kohle durch den großen See, den Lough Neagh, und den Newry-Kanal über die Irische See nach England zu transportieren. Von da ab ging es wirtschaftlich aufwärts mit Coalisland. Doch Kohle wird in der Gegend schon lange nicht mehr gefördert, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Eine Ziegelei, eine Fabrik für Tonröhren – das ist alles. Die große Weberei, wo früher viele Einheimische gearbeitet haben, ist in kleine Workshops unterteilt, die Kleingewerbetreibenden überleben mehr schlecht als recht.
Parallel zum stillgelegten Kanal, der an der alten Kornmühle vorbeifließt, verläuft die Main Street. Ein gewisser O'Neill hat das größte Geschäft am Ort, hinter der grün gekachelten Ladenfront betreibt er eine Kneipe, eine Lebensmittelhandlung und eine Apotheke. Thomas Moloney, der mit einer Tüte Kartoffeln aus der Eingangstür kommt, sich beim Einkauf aber schnell noch ein Glas Bier genehmigt hat, weiß genau, wem er seine Stimme nicht gibt. „Wir müssen McCrea loswerden“, sagt er. „Dieser bigotte Pfaffe muß weg.“
Der Reverend William McCrea ist für die Nationalisten ein rotes Tuch. Der 48jährige ist Priester in Ian Paisleys Freier Presbyterianischer Kirche und Politiker in Paisleys Democratic Unionist Party (DUP). Sein Hobby sind Gospels, und wenn er Zeit hat, geht er nach Nashville und nimmt eine Schallplatte auf. „Ich singe für den Herrn, wann immer ich die Gelegenheit dazu habe“, sagt er. Aber er kann auch anders. Nach dem anglo-irischen Abkommen, das Dublin 1985 begrenztes Mitspracherecht in nordirischen Angelegenheiten geben sollte, sagte McCrea: „Wir müssen vielleicht sogar gegen die Briten kämpfen, um wahrhaft britisch zu bleiben.“ Und im vorigen Sommer trat er bei einer Veranstaltung gemeinsam mit Billy Wright auf, dem protestantischen Terroristen, den sie „King Rat“ nennen.
Vor drei Jahren hat die IRA McCreas Haus unter Beschuß genommen. Seitdem hat er kugelsichere Scheiben, Überwachungskameras und Polizeischutz rund um die Uhr. Bei den etwas gemäßigteren Unionisten von der Ulster Unionist Party (UUP), der größten nordirischen Partei, ist McCrea auch nicht sonderlich beliebt, aber einen Gegenkandidaten haben sie nicht aufgestellt, denn selbst ein ungehobelter Unionist wie McCrea ist ihnen lieber als ein Nationalist.
„Es ist eine Schande“, sagt Thomas Moloney, „daß wir in unserem Wahlkreis seit 1974 jedesmal einen Unionisten ins Unterhaus schicken, obwohl zwei Drittel der Bevölkerung in Mid-Ulster Nationalisten sind.“ Aber die können sich nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Die Sozialdemokraten von der SDLP wollen nicht zugunsten Sinn Féins auf eine Kandidatur verzichten, solange die IRA ihren Waffenstillstand nicht erneuert. Und Sinn Féin, der politische Flügel der IRA, rechnet sich in Mid-Ulster gute Chancen aus für Martin McGuinness, den Vizepräsidenten der Partei.
„Sie hätten Roisin McAliskey aufstellen sollen, dann wäre die Sache klar gewesen“, sagt Patrick O'Hagan, Moloneys Nachbar, der aus Burns' Wettbüro am Marktplatz kommt. Die 25jährige parteilose McAliskey ist hochschwanger, seit November sitzt sie in einem Londoner Gefängnis in Auslieferungshaft. Die deutschen Behörden werfen ihr vor, im vorigen Juni an dem IRA-Anschlag auf die britische Kaserne in Osnabrück beteiligt gewesen zu sein. Der einzige Belastungszeuge, den die Bundesanwaltschaft vorweisen konnte, hat vor kurzem im deutschen Fernsehen erklärt, daß er Roisin McAliskey noch nie gesehen habe. „Freiheit für Roisin McAliskey“ steht auf der Rückwand von Burns' Buchmacherladen. Sinn Féin und die SDLP waren nicht bereit, für die Gefangene zurückzustecken.
Es ist 28 Jahre her, daß der Sitz in Mid-Ulster nicht von einem Unionisten gewonnen wurde. 1969 zog Roisins Mutter, die Bürgerrechtlerin Bernadette McAliskey, als jüngste Abgeordnete aller Zeiten ins Unterhaus ein. Damals hieß sie noch Devlin. Bei den darauffolgenden Wahlen 1974 kandidierte die SDLP gegen sie, die Unionisten sind seitdem lachende Dritte.
Coalisland gehörte bisher zum benachbarten Wahlkreis Tyrone. Erst durch die Grenzveränderungen, durch die ein 18. Wahlkreis in Nordirland hinzugekommen ist, liegt der Ort in Mid-Ulster. „Das betrifft den schmalen Streifen vom Mount Torrent bis zum Ufer des Lough Neagh“, sagt Bernadette McAliskey. „Wir nenen das den Ho-Tschi-Minh-Pfad.“ Die lokale IRA-Einheit gehört zu den aktivsten, dem Waffenstillstand von 1994 stand sie von Anfang an kritisch gegenüber.
Ausgerechnet aus dieser Gegend stammt der SDLP-Kandidat Denis Haughey. Das müsse nicht unbedingt ein Vorteil sein, glaubt Bernadette McAliskey: „Die Leute in Coalisland wissen, was von ihm zu halten ist.“ Sie lacht vergnügt, trotz der Sorge um die Tochter ist sie gut gelaunt. Sie hängt ihre Jacke über die Rückenlehne des Stuhls im Mill Court Restaurant an der Main Street. Nach einer Weile tritt jemand an den Tisch und spricht sie an: „Du bist doch Bernadette, oder? Du hast deine Brieftasche auf der Straße verloren.“ Sie reicht ihr das schwarze Etui und verabschiedet sich. Man kennt Bernadette McAliskey in Coalisland. Vor 15 Jahren hat ein Mordkommando versucht, sie in ihrem Haus zu erschießen. Sie überlebte schwer verletzt. Die Täter entkamen, obwohl die Armee das Haus damals überwachte.
Die Soldaten sind nicht besonders beliebt in Coalisland. Anfang des Monats wühlte eine 200 Mann starke Truppe in der ganzen Gegend Löcher in die Hügel und tarnte sie mit Netzen. Von dort aus überwachen die Soldaten die Straßen. Die Begründung: Auf das Fort am Marktplatz, das sich die Armee mit der Polizei teilt, sei Ende März ein Anschlag verübt worden. In Zivil gekleidete Soldaten mit Baseballmützen feuerten auf zwei junge Männer, die von der Beichte kamen. Der Wagen des Pfarrers wurde von Kugeln durchsiebt, der Geistliche kam mit dem Schrecken davon.
„Ob Armee oder Terrorbanden“, sagt O'Hagan, „sie haben es auf alles abgesehen, was katholisch ist. In den vergangenen 15 Monaten sind mehr als 150 Kirchen, Schulen und Gemeindehallen in Nordirland abgefackelt worden.“ In Coalisland werden sie McGuinness wählen, das wissen auch die anderen Parteien. Nicht ein einziges Wahlplakat hängt im Ort. Dennoch wird es für McGuinness nicht leicht. Zwar werden diesmal mehr Nationalisten wählen als bei den Wahlen zu einem bedeutungslosen nordirischen Forum im vorigen Jahr, als nur 65 Prozent ihre Stimme abgaben, aber auch die Unionisten werden alles mobilisieren. Und manch SDLP-Anhänger ist vielleicht sogar McCrea lieber als McGuinness.
Sinn Féin gewann im letzten Jahr 16 Prozent der Stimmen, doch diesmal zählen keine Prozentpunkte, sondern nur errungene Sitze. Drei Stück will Sinn Féin gewinnen, die Wahl ist sehr wichtig für die Partei. Ihr Präsident Gerry Adams, der in West-Belfast den Sitz so gut wie sicher hat, und Martin McGuinness haben immer wieder betont, die Unnachgiebigkeit der britischen Regierung sei schuld am Zusammenbruch des Waffenstillstands. Doch wer sagt, daß Blair in Sachen Nordirland risikofreudiger ist? Die Krisenprovinz war zwischen Tories und Labour noch nie ein Streitpunkt. Nur wenn Sinn Féin zwei oder drei Unterhausmandate gewinnt, kann man Blair vielleicht ein wenig unter Druck setzen. Viel Zeit bleibt nicht: Wenn Sinn Féin nach Blairs Wahl nicht unverzüglich an den Mehrparteiengesprächen teilnehmen darf, werden es Adams und McGuinness in der eigenen Partei schwerhaben.
„Wie die Wettquote steht, daß Martin McGuinness den Sitz gewinnt?“ In Burns' Buchmachergeschäft hat man sich noch keine Gedanken darüber gemacht. Der Laden ist dunkel, Buchmachergeschäfte haben keine Fenster. An der Wand hängen 14 Fernsehschirme, auf einigen werden Pferderennen übertragen, auf anderen die Vorschau für die nächsten Rennen. Auf handgeschriebenen Zetteln stehen die Quoten für das schottische Grand National und für das Endspiel im Gaelic Football, der traditionellen irischen Sportart. Fünf ältere Männer sitzen gelangweilt auf den Plastikstühlen, einer steht gegenüber am Schalter. Die Wahl ist kein Thema, eine Wette auf einen McGuinness- Gewinn auch nicht. „Meine Stimme gewinnt er auf jeden Fall“, sagt Moloney. Aber ob das reicht?
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