Pädagogik aus dem Adlon

■ Roman Herzog wider die Angst der Deutschen

Ich kenne keine Parteien mehr, keine Interessen, keine Besitzstände. Ich kenne nur noch den wagemutigen, innovativen Deutschen, der den Herausforderungen der Zukunft furchtlos ins Auge blickt. So könnte das Fazit der „Berliner Rede“ des Bundespräsidenten Roman Herzog lauten, frei nach dem Vorbild jener berühmten Erklärung, die ein anderes deutsches Staatsoberhaupt im Jahre 1914, ebenfalls zu Berlin, hielt.

Was die Bürger der Bundesrepublik gegenwärtig am allerwenigsten brauchen, sind volkspädagogische Inszenierungen der Staatsspitze, vorab als „äußerst wichtig“ eingestufte Reden, die, als feierliche Deklarationen gegenüber öffentlicher Kritik möglichst immunisiert, ihren Weg direkt in die Schulklassen der Bundesrepublik nehmen.

Was wir bräuchten, wären genau durchkalkulierte Projekte samt Darstellung möglicher Vor- und Nachteile. Vor jeder Regierungsmaßnahme stehen die Grundrechnungsarten. Worauf wir leicht verzichten können, sind psychologisierende Erklärungsmuster, die die vorgebliche Angst der Deutschen vor dem Neuen in den Mittelpunkt der Analyse stellen. Herzog nennt drei Felder, auf denen die Angst jede Debatte „idiotisiert“ habe: die Kernkraft, die Gen-Technik und die Digitalisierung. Tschernobyl muß eine Erfindung neurosengeschüttelter Innovationsfeinde gewesen sein und die langdauernde, den Gefahren der Atomtechnologie gewidmete Aufklärungsarbeit eine Verdummungskampagne. Worauf es nach Herzog ankommt, ist, sich endlich frei von den „Bedenkenträgern“ zu machen. Günther Anders? Nie gehört.

Der Bundespräsident konstatiert mit Befriedigung, daß innerhalb der jüngeren Generation die „Pflichtwerte“ gegenüber den „Selbstverwirklichungswerten“ wieder an Bedeutung gewonnen hätten. Seit wann muß Selbstverwirklichung gegen Engagement für die Gemeinschaft stehen? Unter dem Aspekt der Pflicht ist beides allerdings schwer zusammenzudenken. Eher unter dem Signum des Aufbruchs, der Rebellion, einer neuen „Vision“ der Gesellschaft. Ob die Behauptung Deutschlands auf dem Weltmarkt, ob der Kampf für einen zukünftigen „Platz an der Sonne“ der Stoff ist, aus dem die Träume der Jungen gemacht sind, steht Gott sei Dank in Zweifel. Christian Semler

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