piwik no script img

Der Respekt geht in Kreuzberg flöten

Kreuzberger Sozialarbeiter schlagen gegen die zunehmende Gewalt unter Jugendlichen im Kiez Alarm  ■ Von Plutonia Plarre

Geduckt schleicht ein junger Mann über das Flachdach des Jugendfreizeitheims Q-free. Sein Ziel ist, von oben in das verschlossene Haus zu gelangen. Aber der Sozialarbeiter auf dem Sportplatz hat ihn erspäht und fordert ihn lauthals auf runterzukommen. Der türkische Jugendliche denkt überhaupt nicht daran.

„Wir befinden uns in einem permanenten Belagerungszustand“, erzählt der Leiter des Freizeitheims, während er die Schlüssel eines Ersatzschüsselbundes, das einem Schließer im Knast alle Ehre machen würde, durchprobiert, um die Bürotür zu öffnen. Der richtige Schlüsselbund ist geklaut worden. Auf dem Tisch liegen mehrere Messer, die bei den Jugendlichen einkassiert wurden. An die Fensterscheibe donnert ein dicker Stein. „Laß mich rein“, schallt es von draußen. „Der Glaser könnte hier drinnen glatt seine Filiale einrichten“, konstatiert der Leiter trocken.

Das Q-free in der Cuvrystraße in Kreuzberg, früher Ping Pong genannt, ist in Kreuzberg für seine jugendlichen Besucher berüchtigt. Die kommunale Einrichtung befindet sich im Wrangelkiez in SO 36, in dem überdurchschnittlich viele Anwohner türkische Immigranten sind. Seit mehreren Wochen ist das Freizeitheim geschlossen. Zuvor hatten die Jugendlichen Teile des Inventars zertrümmert und die Betreuer bedroht. Das Haus, das innerhalb eines Jahres zwei Leiter verschlissen hat und einen extrem hohen Krankenstand unter den Mitarbeitern verzeichnet, war nicht mehr offenzuhalten. Der neue Leiter ist erst seit kurzer Zeit am Ruder und noch dabei, das Terrain zu sondieren. Auf einer Teamklausur erging der Beschluß, die Einrichtung bis auf weiteres nur für Gruppenaktivitäten wie Fitness, Kickboxen, Breakdance und Fußball zu öffnen. Die ausgeschlossenen Jugendlichen sehen das nicht ein und versuchen seither mit allen Mitteln, wieder reinzukommen.

Das Q-free ist ein Extrembeispiel für das, was sich in den Kreuzberger Kinder- und Jugendeinrichtungen zur Zeit abspielt. „Es brennt überall“, schlagen die Mitglieder des Kreuzberger Projekteplenums Alarm. Das Projekteplenum ist ein freiwilliger Zusammenschluß der insgesamt 24 freien und öffentlichen Kinder- und Jugendeinrichtungen des Bezirks, darunter die Alte Feuerwache, der Kinderbauernhof Görlitzer Park, die Kreuzberger Musikalische Aktion und der Jugendladen Taborstraße. „Die Qualität der Gewalt hat sich drastisch verändert“, erzählen die Mitglieder des Projekteplenums, Stefan Greh, Michael Mamczek und Karl-Heinz Haase.

In vielen Projekten und öffentlichen Einrichtungen verkehren in der Mehrzahl türkische Kids. Mit 153.000 Einwohnern und einem Ausländeranteil von 33 Prozent ist Kreuzberg die größte türkische Community Deutschlands. Unter den rund 20.000 Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 18 Jahren beträgt der Ausländeranteil sogar über 40 Prozent. In manchen Vierteln bilden die Einwanderer schon lange die Mehrheit. Nur eine Minderheit der türkischen Jugendlichen macht den Mitarbeitern der Jugendprojekte ernsthaftes Kopfzerbrechen, aber sie stellen mit Sorge fest, daß immer mehr junge Männer „immer heftiger draufkommen“.

„Früher gab es einen gewissen Standard. Mann gegen Mann, wenn einer am Boden lag, war Schluß. Wenn heutzutage einer am Boden liegt, wird erst richtig zugetreten. Große gegen Kleine, alle gegen einen. Nichtigkeiten werden zum großen Konflikt und die Beteiligten immer jünger. Sie verpfeifen und beklauen sich sogar gegenseitig“, konstatiert der Betreuer eines großen Freitzeitheims bei etlichen Jugendlichen einen zunehmenden Werteverfall und Verrohung. „Ein doofer Blick genügt, und sofort geht es körperlich los“, erzählt ein Projektmitarbeiter. „Je schwerer sich einige verbal artikulieren können, desto schneller werden sie gewalttätig.“ Nicht nur die Schlägereien hätten deutlich zugenommen, auch die Zahl der Einbrüche, Überfälle und Erpressungen im Kiez. „Die Stimmung in Kreuzberg ist schlecht“, sagt ein Sozialarbeiter. Immer öfter würden sich Deutsche und Türken Rassismen um die Ohren hauen. „Selbst Linke, von denen ich es nie gedacht hätte, fangen an sich abzugrenzen.“ Leute, bei denen er es nicht für möglich gehalten hätte, zögen aus Kreuzberg weg, weil sie keinen Bock mehr auf „die Scheiße“ hätten, daß ihrem Kind auf dem Schulweg die Jacke abgezogen wird.

Mit der Tatsache, daß viele Jugendliche ständig ein Messer bei sich haben, müssen die Einrichtungen offenbar leben. „Deshalb ein Hausverbot in dem Projekt zu erteilen wäre Blödsinn. Dann kann man das Haus gleich dichtmachen“, heißt es. Viele Auseinandersetzungen unter den Gruppen finden zwar vor der Tür auf der Straße statt, aber auch drinnen kommt es häufig zum Streß. Mutwillige Zerstörungen des Mobiliars, ständige Provokationen, auch Mitarbeiter wurden schon verprügelt.

In einem Freizeitprojekt hatten es Sozialarbeiter gewagt, einen 13jährigen Jungen anzuzeigen, der ein Mädchen mehrfach sexuell belästigt hatte. Der strafunmündige Knabe holte daraufhin seine Freunde und Familienangehörigen, die die Kinder, die als Zeugen aussagen wollten regelrecht bedrohten. „Wenn man mit einem Streß hat, hat man schnell alle anderen am Bein“, haben auch andere Projekte erfahren. In einem anderen Projekt wurde eine ganze Fußballmannschaft von den Brüdern und Freunden eines kleinen Jungen aufgemischt. Der Anlaß: Die Mannschaft hatte es gewagt, das Kind vor die Hallentür zu setzen, nachdem es partout nicht damit aufhören wollte, mit seinem Ball das Spiel der anderen zu stören. „Wenn man dagegen aufbegehrt, muß man im gleichen Atemzug sagen, die Deutschen sind aber noch schlimmer, sonst ist man gleich ein Rassist“, bedauert einer. „Das verhindert die überfällige Diskussion.“

Unsicherheit und Ohnmachtsgefühle machen sich bei den Sozialarbeitern breit. Die wenigsten können Türkisch, türkische Kollegen in den Teams sind die absolute Minderheit. Man sei nur noch „am Löschen“, komme nicht mehr dazu, Gespräche zu führen und sich den Kleinen, Leisen und Schwachen zu widmen. Dabei seien die Jugendeinrichtungen für viele türkische Kids die einzige Ansprechstelle für ihre Probleme. „Die Eltern kapseln sich ab. Die Kinder wachsen auf der Straße auf.“ Die gläubigen Muslims unter den Jugendlichen, hat ein Sozialarbeiter beobachtet, seien meist nicht so hart drauf wie diejenigen Kids, die ohne Werte zwischen den Kulturen aufwüchsen. „Die Stühle rutschen doch immer weiter auseinander. Wenn sie keine eigenen Werte haben, holen sie sich die woanders.“

Das Projekteplenum fordert, daß die Einrichtungen durch Personalaufstockung, Fortbildungen und ähnliches in die Lage versetzt werden, richtige „Beziehungsarbeit“ leisten zu können, denn nur so könnten den Kids Werte vermittelt werden. Wenn die Jugendprojekte aber weiter unter dem Diktat des Rotstifts zusammengeschmolzen würden, stehe damit „langfristig das demokratische Gemeinwesen zur Disposition“. Eines ist den Projekten jedoch vollkommen klar: Das Hauptproblem der Jugendlichen ist ihre Perspektivlosigkeit, und die kann selbst der beste Sozialarbeiter nicht lösen.

Kreuzberg ist das Armenhaus der Stadt. Der Bezirk hat mit über 28 Prozent die höchste Arbeitslosenquote der Stadt und mit 27.000 die meisten Sozialhilfeempfänger. Ein Drittel davon ist im arbeitsfähigen Alter, also zwischen 18 und 55 Jahre, weiß Sozialstadträtin Ingeborg Junge-Reyer (SPD). Die kinderreichen türkischen Familien gehörten „überproportional“ zu den Armen. Auch in puncto Jugendarbeitslosigkeit liegt Kreuzberg an der Spitze. Und noch in einem weiteren Punkt ist Kreuzberg ungeschlagen: Ein Drittel der Kinder, in der Regel Immigrantenkinder, verläßt die Schule ohne Schulabschluß, sagt Jugendstadträtin Hannelore May (parteilos, für Bündnis 90/Grüne). Es ist genau zehn Jahre her, als Autonome, Sozialhilfeempfänger, Immigranten, Rentner, Kids und Otto Normalverbraucher am 1. Mai 1987 einträchtig die Bolle-Filiale am Görlitzer Bahnhof plünderten. Fassungslos über die Eruption des sozialen Pulverfasses überhäufte der Senat den Bezirk mit diversen Sondermitteln. Zu dem „Aufstandsbekämpfungsprogramm“ gehörten zahlreiche Qualifizierungs- und Ausbildungsmaßnahmen. Aus heutiger Sicht waren es damals richtig fette Jahre. eine interne Prognose der Senatsjugendverwaltung (siehe auch Seite 21) geht davon aus, daß die Jugendarbeitslosigkeit in Berlin bis zum Jahr 2000 auf 40 Prozent steigen wird. Im Moment liegt sie bei 15 Prozent. „Wenn das eintrifft, bedeutet das für Kreuzberg 60 Prozent“, fürchtet die von der taz mit den Senatszahlen konfrontierte Volksbildungsstadträtin May. Auch die Folgen werden in der als „Horrorszenario“ betitelten Prognose offen benannt: „Gerade diese jungen Menschen, die gesellschaftlich ausgegrenzt werden, neigen zu erhöhter Aggression gegen Sachen und Menschen (Anstieg der Jugendkriminalität) oder entsprechender Autoaggression (Drogen, Alkoholkonsum, Suizid) mit allen daraus resultierenden immensen gesellschaftlichen Folgekosten.“ Das Fazit: „Eine Investition in die Ausbildung von Schulabgängern aus sozial schwachen Familien ist dringend geboten.“

Aber was in den vergangenen Jahren versäumt worden ist, ist nicht mehr wiedergutzumachen. Die erste Frustgeneration des Sozialabbaus ist voll im Begriff, sich mit dem Status als Deklassierter zu identifizieren, und lebt nach den eigenen Regeln und Gesetzen. Mit Diebstahl, Raub, Drogenhandel und Erpressung versucht sie das schnelle Geld zu machen, tendiert verstärkt zu extrem nationalistischen, religiös-fanatischen Positionen. Der Vorsitzende des Türkischen Bundes, Safter Cinar, bestätigt den Trend: Die Ausgegrenzten grenzten sich durch die Sprache der Gewalt und ihr sonstiges Verhalten noch weiter aus und seien kaum noch bereit, sich zu integrieren. „Sie haben immer weniger deutsche Freunde und sind immer mehr an den Geschehnissen in der Türkei interessiert.“

Ein Sozialarbeiter eines Jugendprojekts hält die Integration „nach allem, was ich in meinem Bereich erlebe, für gescheitert. Aber sie war auch nie ernsthaft gewollt“, meint er. Das Schlüsselwort für ihn heißt nicht Integration, sondern Respekt und Toleranz. „Aber genau der Respekt geht flöten, und das macht mir angst.“

Die Titelgeschichte des Spiegels vor zwei Wochen über die angeblich gescheiterte Integration bringt die Ausländerbeauftrage des Senats, Barbara John (CDU), noch heute in Rage. Die Einwanderung der türkischen Arbeitnehmer sei eine Erfolgsgeschichte der Integration, ist sie sicher. „Sie findet tagtäglich statt, obwohl es massenhaft Probleme gibt.“ In einigen Kiezen Kreuzbergs funktioniere die Integration lediglich deshalb nicht mehr, weil die Türken dort in der Mehrheit seien.

Darum wandere der türkische Mittelstand auch in andere Bezirke aus, damit ihre Kinder richtig Deutsch lernten. Mit Nachdruck verweist John darauf, daß die 99,2 Prozent der zwischen 14 und 23 Jahre alten Immigranten „nicht an Gewalttaten beteiligt“ seien. Nach Angaben der Polizeiexpertin für Jugendgruppengewalt, Christine Burck, ist der Anteil der türkischen Jugendlichen an Gewalttaten wie Raub und Erpressung im Vergleich zum Vorjahr um 5 Prozent „unübersehbar gestiegen. Den Aufschrei der Sozialarbeiter kommentiert sie mit den Worten: „Gut so, aber warum erst jetzt?“

Unterdessen hauen die Jugendlichen an die verschlossenen Türen des Q-free. Ein paar schaffen es, mit den Bodybuildern des Fitness-Kurses heimlich reinzukommen. Der neue Leiter schmeißt sie nicht raus, sondern zieht sie in seinem Büro ins Gespräch. Wie es früher war, fragt er, und warum sich die Situation im Q-free so zugespitzt habe. Richtige Antworten haben die Jungen nicht parat, der Kern ihre Rede ist: Früher war alles besser.

Einer von ihnen ist 15 Jahre alt. Während er cool den Rauch seiner Zigarette ausstößt, erzählt er, daß er per Haftbefehl gesucht wird, weil er einen Araber niedergestochen habe. Wann das Q-free endlich wieder richtig aufmache, wollen sie wissen. Der Leiter weiß es nicht: „Ich hoffe, so bald wie möglich.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen