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Marktschreierisches

Die aufklärerische Absicht der Heitmeyer-Studie wendet sich in ihr Gegenteil und skandalisiert, meinen die Sozialwissenschaftler  ■ Wolf-D. Bukow und Erol Yildiz

In der von W. Heitmeyer, J. Müller und H. Schröder vorgelegten Arbeit „Verlockender Fundamentalismus“ wird in aufrüttelnder Weise vor der Gefahr der Islamisierung eingewanderter Jugendlicher türkischer Herkunft gewarnt. Die damit sicherlich verbundene aufklärerische Absicht wendet sich jedoch in ihr Gegenteil. Die These der Arbeit ist, daß der islamische Fundamentalismus unter den türkischen Jugendlichen eine bedrohliche Attraktivität gewinnt. Dies sei so, (1.) weil sie nachhaltig diskriminiert werden, (2.) weil sie sich gerade auch in der zweiten und dritten Generation dem Islam mit seinem fundamentalistischem Kern verpflichtet fühlen und (3.) weil sie bis heute zwischen zwei Kulturen leben und deshalb ganz besonderen Belastungen ausgesetzt sind.

Es ist ein unstrittiges Verdienst der Arbeit, sehr deutlich auf die andauernde Diskriminierung dieser Bevölkerungsgruppe hingewiesen zu haben. Es ist auch überzeugend, wenn betont wird, daß solche Erfahrungen einen Rückzug aus der Gesellschaft auszulösen und eine Hinwendung zu „neuen Heilsbringern“ zu stimulieren vermögen. Allerdings werden die Urheber der Diskriminierung nicht weiter thematisiert, und die Auswirkungen werden unterschätzt. Wir wissen aus verschiedenen Untersuchungen, daß die Diskriminierung der Minderheiten aus der Mitte der Bevölkerung hervorgegangen ist und populistische Diskurse gegen Einwanderung, gegen Minderheiten und gegen Flüchtlinge ganz wesentlich dazu beigetragen haben. Es ist auch bekannt, wie Diskriminierung und Ethnisierung wirken und daß sie nicht nur Rückzüge und Ghettobildung auslösen, sondern auch zur Selbstethnisierung betragen. Wie Vergleichsuntersuchungen belegen, hat dieser Prozeß jedoch nichts mit der ethnischen Orientierung der jeweils eingewanderten Gruppe zu tun, sondern mit dem von der aufnehmenden Bevölkerung entwickelten Verhältnis zu jenen Gruppen.

Im theoretischen Teil der Arbeit werden zunächst die gegenwärtigen gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse sehr einseitig kritisiert. Sie bewirken – heißt es – „Individualisierung“ und „Pluralisierung“ und fördern die Auflösung von sozialen Bindungen zumal in der Familie. Die Individualisierung wird mit Solidaritätsverfall und Vereinzelung verknüpft. Individualisierung wird vor allem als Risikoaspekt betrachtet. Um die heutige Orientierungslosigkeit, Desintegration und Vereinzelungserfahrungen zu verarbeiten, würde den einheimischen Jugendlichen nichts anderes übrigbleiben, als sich rechtsextremistischen und fremdenfeindlichen Gruppierungen mit entsprechenden Pseudoorientierungen zuzuwenden. Bei den türkischen Jugendlichen kämen noch Diskriminierungserfahrungen und „das Leben zwischen zwei Kulturen“ dazu. Die Hinwendung zum islamischen Fundamentalismus wird insoweit als Begleiterscheinung moderner Gesellschaften gedeutet. Nur – nach dieser so inszenierten Krisendiagnose müßte man eigentlich danach fragen, warum unter diesen Bedingungen nicht noch mehr türkische Jugendliche fundamentalistisch werden. Statt dessen ist bei der Analyse der Situation türkischer Familien plötzlich davon die Rede, sie würden die einheitlichen „deutschen Normen und Wertvorstellungen“ wegen ihres konträren und hermetisch geschlossenen „türkischen Kultursystems“ ablehnen. Dies sei das eigentliche Integrationshindernis. Plötzlich wird also die These favorisiert, daß die Aufnahmegesellschaft durch Tradition oder durch stabile Gemeinschaften zusammengehalten wird, damit man davon die Einwanderersituation überhaupt absetzen und die Integrationsprobleme dieser Bevölkerungsgruppe zuweisen kann. Sie seien nur zu einer halbierten Moderne fähig!

Immer wieder wird in der Analyse auf die Probleme eines Lebens zwischen zwei Kulturen hingewiesen. Hierbei wird allerdings ignoriert, daß die Jugendlichen der zweiten und dritten Generation kaum „von Natur aus“ zwischen zwei Kulturen sitzen, sondern vielmehr in einer städtischen Alltagswirklichkeit aufwachsen, in der es längst die unterschiedlichsten Kulturen gibt. Wissenschaftler verweisen darauf, daß wir heute schon zwischen einer männlichen und einer weiblichen Kultur, zwischen lokalen und virtuellen Kulturen usw. unterscheiden müssen. Und sie verweisen auf die Fähigkeit, besonders auch von Einwanderern, sogar neue und sehr bald wohlausgewogene Kulturen – unter Umständen auch mit einer eigenen Sprache (z. B. Spanglish in den USA) – zu schaffen.

Statt eines weiteren „Lamentos über den Werteverfall“ wäre es angebracht, etwa das heute entstehende Deutschtürkisch als eine solche Sprache anzuerkennen. Im übrigen bildet die türkischstämmige Einwanderungsgruppe – wie sattsam bekannt – keine Ethnie und kennt auch kein geschlossenes kulturelles Dach. Die Untersuchung behauptet hingegen: türkischstämmige Jugendlichen seien nicht in der Lage, die hiesigen Normen und Werte zu rezipieren.

Ärgerlich wird die Untersuchung, wenn der Islam in der polemischen Sprache Scholl-Latours kritisiert wird: Formulierungen wie „Unter der Fahne des Propheten“ oder ein Bild, wo ein vor Kraft strotzender Türke sich vom deutschen Sozialarbeiter bedienen läßt und sich mit „Scheiß Deutschland“ bedankt, sind demagogisch. Noch katastrophaler wirkt die Argumentation, wo sie einer kulturrassistischen Linie folgt. Es wird eine Bevölkerungsgruppe künstlich zusammenfügt (türkische Ausländer), ethnisch markiert (damit die Gruppe ein Merkmal erhält, dem sie nicht mehr entrinnen kann) und aufgrund dieser Markierung abgewertet (der Islam bietet das Bild einer halbierten Moderne). Diese kulturrassistische Verfahrensweise ist unerträglich.

Die Arbeit leistet der Sache der Einbindung von Einwanderern einen schlechten Dienst. Sie trägt zur Verhärtung der Fronten bei. Sie lenkt den Blick populistisch, ja marktschreierisch auf skandalisierte Gruppen allein bei den Einwanderern und hier speziell türkischer Abstammung. Als ob es dies alles nicht genauso bei den Alteingesessenen gäbe!

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