: Menschen, keine Nummern
23.000 Namen von Nazi-Opfern ließen jüdische StudentInnen gestern am Holocaust-Gedenktag Jom Ha'schoa in Hamburg vorlesen. Sie erzeugten Betroffenheit, Tränen und Staunen ■ Von Judith Weber
„Abel, John. Geboren 1886. KZ Fuhlsbüttel.“
Das Buch, das vor ihr liegt, hat die Frau vergessen. Einen Namen nach dem anderen spricht sie ins Mikrofon, ohne auf die Seiten zu schauen. Ihre Verwandten zählt sie auf, Freunde und Nachbarn, die von den Nazis in Hamburg ermordet wurden. Daß gegen elf Uhr gestern morgen eigentlich Nachnamen mit dem Anfangsbuchstaben F an der Reihe waren, interessiert weder sie noch die Umstehenden auf dem Joseph-Carlebach-Platz im Grindelviertel. Schließlich hört die weißhaarige Frau auf zu sprechen. Im Gehen wischt sie sich die Tränen ab. Die Warteschlange vor dem Pult rückt einen Platz auf. Der nächste bitte.
„Karl Frick, sechsundfünfzig. KZ Neuengamme.“
Drei Stunden Namen lesen hat die Jüdische Organisation Norddeutscher Studenten (JONS) um elf Uhr hinter sich. Acht weitere Stunden folgen, zum Gedenken an die Hamburger Opfer der NS-Diktatur. Der Platz, auf dem früher die Synagoge stand, ist nicht voll, aber ständig warten Menschen darauf, an einem der Pulte vorlesen zu können. 23.000 Namen erklingen und verklingen im Lauf des Tages auf dem Platz. Dazu das Alter der Menschen und immer wieder die Deportationsorte Neuengamme, Auschwitz oder Fuhlsbüttel.
Wenn die LeserInnen schnell sprechen, sind Vor- und Nachnamen kaum auseinanderzuhalten, verklumpen Personen zu Wortgewirr. „Die einzelnen Leute wirken gar nicht mehr“, nörgelt eine Zuschauerin. Es fehle die Besinnung. Alles eine Frage der Zeit, sagt Mitorganisatorin Imke Lange . „Wenn wir nur an einem Tisch gelesen hätten, hätte das vierzig Stunden gedauert.“
„Michail Frolow, achtzehn. KZ Neuengamme.“
Wie die meisten OrganisatorInnen hat Imke Lange wenig Zeit zur Besinnung. Sie flitzt von Pult zu Pult zum Infostand. Vor den Tapeziertischen stehen SchülerInnen Schlange, um mehr über die JONS und den jüdischen Holocaust-Gedenktag Jom Ha'schoa zu erfahren. „Jeder Mensch hat einen Namen“, lautet dessen Motto – zur Erinnerung an und zum Zeichen gegen die nationalsozialistische Numerierung Gefangener. In Israel ist das öffentliche Namen lesen Tradition, in Berlin fand es am Sonntag zum zweiten Mal statt, in Hamburg erstmals gestern.
„Ich hatte mir das irgendwie eindrucksvoller vorgestellt“, bemängelt Stanislaw Grenewisch. Der Neuntkläßler ist mit seinem Geschichtslehrer gekommen. „Die Namen hört man gar nicht mehr, wenn das so viele auf einmal sind.“
Ginge es nach den OrganisatorInnen, könnten sogar noch mehr Menschen genannt werden. „Die Liste ist längst nicht vollständig“, sagt JONS-Mitglied Daniel Sheffel. Er und die anderen StudentInnen haben die Namen aus mehreren Büchern zusammengestellt: einer Dokumentation des Hamburger Untersuchungsgefängnisses, Aufstellungen der WiderstandskämpferInnen über Euthanasie-Opfer sowie Akten der Konzentrationslager Neuengamme und Fuhlsbüttel.
„Klara Ruth Abosch, 1922 geboren, ausgewiesen nach Zbaszyn.“
Unvollständig oder nicht – die Liste schürt Betroffenheit. Eine weißhaarige Frau schafft es nicht bis zum Pult. Zwanzig Minuten hat sie im Regen angestanden, um einige Namen zu lesen. Als nur noch ein Mann vor ihr ist, gibt sie auf. „Ich kriege vor Heulen keinen Ton raus“, sagt die Siebzigjährige. Ihre Nachbarin habe sich im Dritten Reich geweigert, eine jüdische Freundin zu verstecken – „die Erinnerung werde ich nicht los“. Ihren Namen will die Hamburgerin nicht in der Zeitung lesen, und außerdem hat sie es eilig. Zum Blumenladen müsse sie, „hier wenigstens einen Strauß hinlegen“.
„Sandor Freisager, siebenundvierzig. KZ Neuengamme.“
Als die Rentnerin eine Stunde später ihre Tulpen in die Mitte des Platzes trägt, stehen an dessen Rand Soldaten. Zehn Mann von der Führungsakademie Blankenese sind angereist, um am Jom Ha'schoa teilzunehmen. Erstmal jedoch lassen sie „das ganze auf sich wirken“und flüchten sich vor dem Regen unter einen Dachvorsprung – „auch wenn immer alle behaupten, wir seien so harte Männer“, witzelt Major Gerhard Klaffung. Dennoch, Spaß beiseite, fühle er sich verpflichtet, „der Kriegsopfer zu gedenken“.
„Gertrud Abraham, geborene Saulmann. Deportiert aus den Niederlanden.“
Das fällt leicht auf dem Joseph-Carlebach-Platz. Der Ort, wo früher die jüdische Synagoge stand, macht allein „durch seine Stimmung beklommen“, findet Imke Lange. Lange haben die StudentInnen den Tag geplant. Die Betroffenheit ist geblieben. Immer wieder kommen Überlebende an den Infostand, um in den Büchern nach Freunden und Verwandten zu suchen. Denn jeder Mensch hat einen Namen.
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