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„Der Mensch zählt vor Gericht nichts“

■ Im Zweifel gegen die Zeugin. Beispiel Sonja: Der Autodiebstahl zählte vor Gericht mehr als die Förderung der Prostitution. Menschenhändler kommen glimpflich davon

Sonja wurde nach ihrer Flucht aus dem Bordell vernommen. Einige Wochen später konnte die Bande, die auch Autos verschob, verhaftet werden. Die Staatsanwaltschaft stellte fünf Männer wegen schweren Menschenhandels und mehrerer Autodiebstähle vor Gericht. Die Anklage umfaßte 21 Punkte. Die ersten zwanzig führten jedes Auto, das die Gruppe gestohlen und über die Grenze gebracht hatte, einzeln auf. Anklagepunkt 21: schwerer Menschenhandel in zwei Fällen. Die Staatsanwaltschaft bestätigte auf Anfrage, daß sie Sonja – einzige Zeugin und Nebenklägerin – für unglaubwürdig hielt, da die junge Russin zum Teil widersprüchliche Aussagen gemacht habe, wodurch ihre Glaubwürdigkeit „angeknackst gewesen“ sei. Anklagepunkt 21 wurde deshalb im Prozeßverlauf geändert: Aus „schwerem Menschenhandel“ wurde „Förderung der Prostitution“. Die Angeklagten bekamen Freiheitsstrafen zwischen zwei und vier Jahren, eine Strafe wurde auf Bewährung ausgesetzt. Das andere Verfahren stellte die Staatsanwaltschaft ein: „Förderung der Prostitution“ falle gegenüber den Autodiebstählen nicht ins Gewicht, hieß es sinngemäß in dem Einstellungsbescheid. Etliche Stunden Tonbandmaterial, auf dem Telefonate der Angeklagten mitgeschnitten worden waren, hätten beweisen können, so Sonjas Anwältin, daß sie mit brutaler Gewalt zur Prostitution gezwungen worden war. Das Gericht gab dem Beweisantrag statt und stellte das Verfahren dennoch ein. Das Abhören der Bänder war dem Gericht zu zeitaufwendig. Heute lebt Sonja, drei Jahre nach ihrer Flucht aus dem Bordell, immer noch in der Anonymität – das gehört zum Zeuginnenschutzprogramm. Über ihre Erfahrungen mit der deutschen Justiz sagt sie heute: „Der Mensch zählt vor Gericht nichts. Daß der Mensch, die Persönlichkeit, verkauft wurde, ist halb so schlimm. Wirklich schlimm ist nur, daß Autos ins Ausland verschoben worden waren.“

Buchtip – ein praktischer Ratgeber für die Betroffenen: „Prostitution im Grenzland – Beratung und Hilfe jenseits von Zwang und Aufsicht“. Erschienen bei: Akademie für öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf – Grenzland Workshop, 1995

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