: Neuer Aufbruch an der Wolga
In Saratow liegt die Wirtschaft am Boden. Doch die Menschen sind optimistisch und träumen davon, Hauptstadt der Region zu werden ■ Aus Saratow Klaus-Helge Donath
Bei S.E.P.O. läuft nichts mehr wie früher. Anderthalb Stunden noch, und die Bänder in Saratows traditionsreicher Elektrofabrik werden abgestellt. Gefrier- und Kühlschränke gehen auf den letzten Transport ins Depot. Dem Unternehmen fehlen die Kunden. Früher erfüllte der satte Klang seiner Kühlaggregate alle gediegeneren Etablissements zwischen Budapest und Peking. Die Devise verfing: Was Lärm macht, funktioniert. Sozialistisches Tondesign. Heute unterhält die Firma nicht einmal mehr ein Lager in Moskau. Südostasiatische und europäische Anbieter haben sie vom Markt verdrängt. Die Konkurrenz arbeitet billiger und vor allem umweltfreundlicher.
Auf dem Flachdach des riesigen Fabrikgebäudes wittern die Lettern S.E.P.O. schon lange vor sich hin. Gebrauchslyriker sowjetischer Schule, selten verlegen um aufbauende Parolen, verwandelten die Firmeninitialen noch in einen ideellen Auftrag: S.E.P.O. gleich „Mut, Enthusiasmus, Suche, Optimismus“. Von alldem ist nichts geblieben außer der Suche nach einem westlichen Investor.
Die Verkäufer Valerij und Wlad rauchen vor dem Ausstellungsraum eine Zigarette. Der Produktionsstopp in wenigen Minuten bringt sie nicht aus der Ruhe. Schließlich sei es nicht das erste Mal. Seit sieben Monaten hätten sie keinen Lohn erhalten, erzählt Wlad gelassen, der in einer nagelneuen Lederjacke steckt und italienische Markenschuhe trägt. Doch wovon ernähren sie sich? „Wer lebt heute schon allein von seinem offiziellen Monatslohn...?“ schmunzelt Valerij. Sie warten ab. Entlassung droht schließlich keinem. Von Qualität und Konkurrenzfähigkeit ihrer Güter sind sie dennoch fest überzeugt. Ein wenig Geld, kleinere Korrekturen und die Sache liefe wieder...
Das behauptet auch Direktor Valentin Pawljukow. Eisschränke sind für ihn nur ein Nebenprodukt, wichtigstes Pferd im Stall bleibt „Fabrikation No. 128“ – die Elektronik der Düsentriebwerke SU-27. Fast zwei Drittel der Industriebetriebe in Saratow gehören zum Militärisch-Industriellen Komplex (MIK) oder sind mit ihm verknüpft. Daher war die Stadt zu Sowjetzeiten für Fremde und Ausländer geschlossen. „No. 128“ fände nach wie vor in China und Indien reißenden Absatz. Entwicklungsmärkte, auf die sich die russische Industrie zunehmend versteift. Nur Rupien und Jüan erreichten selten das Werk.
Wahlschlappe für Kommunisten in Saratow
Denn das Geschäft wird vom staatlichen Waffenhändler und Monopolisten „Roswooruschenije“ abgewickelt. Direktor Pawljukow verkaufte die letzten Lagerbestände des Kunststoffs Polysterol, um wenigstens einen Teil der Renten und Löhne auszuzahlen.
Das Schicksal der Firma ist kein Einzelfall. Rüstungsbetrieben im ganzen Land geht es ähnlich. Nur schlägt sich das andernorts in Stimmung und Wahlverhalten der Bürger nieder. Kommunisten und Chauvinisten geben meist dort den Ton an, wo früher Werktätige den Schutzschild der Arbeiter- und Bauernmacht schmiedeten.
Ganz anders in der Stadt an der Wolga, 900 Kilometer südöstlich von Moskau. Gouverneur Dimitrij Ajazkow fuhr im Herbst einen beeindruckenden Wahlsieg ein. Im ersten Durchgang erhielt er 81 Prozent der Stimmen bei fast 50 Prozent Wahlbeteiligung. Die „Weißen“ – die herrschende Kremlriege – konnte Saratow als einzigen Brückenkopf im „roten Gürtel“ um Moskau halten, wo Landwirtschaft, Textilindustrie und Rüstungsbetriebe ein kümmerliches Dasein fristen.
Ein vergleichbares Traumergebnis hatte nur noch Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow erzielt. Der Ökonom und ehemalige Geflügelfarmdirektor Ajazkow nahm sich den forschen Draufgänger auch zum Vorbild. Doch erklärt das den Erfolg nicht allein. Der Kreml wollte die Region auf keinen Fall an die Opposition abtreten und zeigte sich empfänglich für die finanziellen Wünsche des Gouverneurs. Milliarden Rubel flossen in den MIK, Lehrer erhielten pünktlich ihre Gehälter, und die Landwirtschaft bekam eine Finanzspritze in Trillionenhöhe.
Die Straßen werden neu asphaltiert und im architektonisch reizvollen Zentrum, das als historisches Ensemble erhalten blieb, strahlen Fassaden in freundlichem Anstrich. Studenten bevölkern Cafes gekleidet nach der letzten Mode. Besonders viele zieht es an die juristische und wirtschaftswissenschaftliche Fakultäten, die dem Ansturm kaum gewachsen sind.
Ist es also ein Aufschwung auf Pump? Dem hält der energische Administrator entgegen, er hole sich nur, was Moskau ihm schulde. Die Bürger sind mehr als ein halbes Jahr nach den Wahlen zufrieden mit ihrem Chef. Das verwundert, neigt man doch in Rußland selbst bei geringfügigen Versäumnissen der Macht schon zu ausgeprägtem Nörgeln. Auf Ajazkow läßt keiner etwas kommen. Nicht einmal die Opposition, soweit sie noch nicht mit Stellen im öffentlichen Dienst bedacht wurde.
In der Stadt an der Wolga regiert das Maß
„Ein Chosaistwennik der Extralklasse“, erkennt der stellvertretende Vorsitzende des Parlaments, ein Kommunist neidlos an. Hinter dem „chosaistwennik“ verbirgt sich im Russischen ein strenger zuverlässiger Hausherr, der hervorragende Fähigkeiten als Wirtschafter hat. Von so einem Mann träumen die meisten nur.
Ein wenig vorsichtiger und differenzierter sieht es der örtliche Vorsitzende der Partei „Wahl Rußlands“, der Vizepremier Anatolij Tschubais angehört. „Der Gouverneur hat die bürokratische Kontrolle verstärkt, den Beamten wieder Angst eingejagt. Seither werden Anordnungen tatsächlich befolgt“, meint Elchan Kulijew. Er schwankt, ob er den autoritären Zugriff befürworten kann . Ajazkow würde denn auch von sich nie behaupten, ein vorbildlicher Demokrat zu sein. Auf derlei Fragen antwortet er schlitzohrig: „Ich habe die Position des Präsidenten zu teilen, und davon bringt mich niemand ab.“
Saratow schmiegt sich in eine hügelige Landschaft, die sanft zur Wolga hinabsteigt. Im vorigen Jahrhundert beheimatete das Gebiet eine der Kornkammern des Zarenreiches. Händler versorgten nicht nur Moskau und St. Petersburg mit Getreide, sie exportierten auch nach Europa. Saratow war eine stolze Stadt, weltoffen, was sich der stattlichen, aber eben nicht protzigen Architektur bis heute ansehen läßt. Hier regiert das Maß.
Um die Jahrhundertwende entstand die Universität und erhob die Stadt zum kulturellen Mittelpunkt an der Wolga. Was Moskau an technischen Errungenschaften aus dem Westen übernahm, hielt kurze Zeit später in Saratow Einzug. Die Pferdebahn, Elektrizität, das Telefon. Sogar öffentliche Fernsprecher stellten die Stadtväter auf. Allerdings ist das Telefonnetz allmählich überholungsbedürftig.
In der Provinz entsteht erstmals ein Heimatgefühl
Das Selbstbewußtsein der Bürger wächst spürbar. Sie träumen davon an die lichteren Zeiten anzuknüpfen und Saratow offiziell zur „Hauptstadt der Wolgaregion“ zu ernennen. Ein bißchen komisch wirkt es schon, wenn in der Öffentlichkeit mit feierlichem Ernst die Notwendigkeit hin und her bewegt wird, für die Stadt eine passende „Ideologie“ zu entwerfen. Ein ähnliches Vorhaben verfolgt auch Präsident Jelzin für Rußland, das angeblich einer gemeinsamen Idee bedarf, um es wieder aufzurichten.
In Saratow spiegelt die Suche indes etwas anderes wider: Tut sich draußen im Land auch nur ein zarter Hoffnungsschimmer auf, steigen Wille und Wunsch, sich von der Bevormundung Moskaus zu lösen. Das ist nicht nur in Saratow so. Nach dem Sowjetregime, das seine Bürger zum Nomadisieren zwang, entsteht erstmals ein Gefühl der Heimatbindung. „Rußland wird in der Provinz wiedergeboren“ ist keine neue Erkenntnis. Aber nun wird sie offensiv und erhobenen Hauptes vertreten.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schrieb Nikolai Tschernyschewski den sozialkritischen Roman „Was tun?“ Das Buch avancierte zum revolutionären Leitfaden einer ganzen Generation. „Was tun?“ ist seither die russische Schicksalsfrage. Tschernyschewski stammte aus Saratow, wo man jetzt glaubt, eine Antwort gefunden zu haben: „Sechs Millionen Tonnen Getreide ernten und den Zugriff auf wenigstens ein Drittel der zu Hause produzierten Energie behalten“, meint Ajazkow zuversichtlich. Da stünde die Region im nächsten Jahr schon auf eigenen Beinen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen