piwik no script img

Der Frust entlädt sich auf der Straße

■ Psychologen sind überzeugt: Zunehmende Verkehrsdichte, Staus, Baustellen und die miserable wirtschaftliche Lage bringen immer mehr Menschen am Steuer zum Ausrasten

Ein Golf-Fahrer schießt einem Fußgänger, der ihm die Vorfahrt geklaut hat, mit einer Schreckschußpistole ins Gesicht. Zwei 19jährige zerren einen 27jährigen Mann nach einer rasanten Verfolgungsfahrt an einer roten Ampel aus dem Wagen und stechen ihn nieder. Beide Vorfälle ereigneten sich in kurzem Abstand in Berlin. „Waffenbedrohung im Straßenverkehr sind Gott sei Dank noch die Ausnahme“, sagt Karsten Schlüter vom Referat für verkehrspolizeiliche Grundsatzaufgaben. Doch die Aggression der Autofahrer nimmt zu. „Jeder“, so Schlüter, „kann dies tagtäglich erleben.“

Im Vergleich zum Vorjahr sind kriminelle Verhaltensweisen wie Nötigung und Körperverletzung im Straßenverkehr 1996 um 10 Prozent gestiegen. Die Anzeigen wegen grob verkehrswidrigen und rücksichtslosen Verhaltens haben um 5 Prozent zugenommen: Zu den sogenannten sieben Todsünden eines Autofahrers gehören unter anderem Alkohol und Drogen am Steuer, Nichtbeachtung der Vorfahrt, Wenden auf Autobahnen oder in entgegengesetzter Richtung fahren. „Die zunehmende Gleichgültigkeit und höhere Risikobereitschaft“, so der Polizist Schlüter, spiegele sich aber nicht nur in den Straftaten, sondern auch in den deutlich zunehmenden Ordnungswidrigkeiten. 1996 wurden fast eine Million Geschwindigkeitsübertretungen registiert, eine Steigerung von fast 100 Prozent zum Vorjahr. Die Rotlichtverstöße hätten um 15,5 Prozent zugenommen. Allerdings ist 1996 auch der polizeiliche Überwachungsdruck gesteigert worden.

Als Rowdies im Straßenverkehr tun sich am häufigsten die Männer hervor. Bei den Tatverdächtigen stehen die 18 bis 27jährigen an der Spitze. Als besonders rücksichtlos gelten auch 30 bis 50 Jahre alte Geschäftsleute und Freiberufler, weiß die Verkehrspsychologin beim TÜV Berlin-Brandenburg, Christina Jänisch. „Ellenbogen raus und durchstarten, egal um welchen Preis.“ Wirkung zeige bei diesen Herren allein der Führerscheinentzug. Allerdings beobachtet Jänisch, daß auch die Frauen aggressiver im Verkehr werden. „Sie machen sich zunehmend das Fahrverhalten der Männer zu eigen.“

Die zunehmende Verkehrsdichte, Staus und Baustellen, sowie die soziale Lage ließen immer mehr Menschen am Steuer ausrasten, glaubt der Verkehrspsychologe des ADAC, Peter Seemann. Die Stimmung im Land sei explosiv: „Ist doch doch klar, daß man nicht wie ein Engel fährt, wenn man gerade gefeuert worden ist.“ Die Aggressionen würden sich auf allen Ebenen entladen, nicht nur am Steuer, ist der Psychologe des autofreundlichen Clubs um Ehrenrettung der Bleifußfahrer bemüht. Die Psychologin des TÜV sieht dies genauso. Oft baue sich die Gewaltspirale durch geringfügige Anlässe auf: „Ein Fahrer bezieht das plötzliche Bremsen seines Vordermanns irrtümlich auf sich und denkt sogleich, das muß ich ihm heimzahlen. Der andere holt sogleich zum Gegenschlag aus. An der Ampel haben sich die Aggressionen dann so hochgeschaukelt, daß sie sich gegenseitig aus dem Auto holen und verprügeln.“

Die Leute seien ungeduldiger und gereizter, lautet auch die Erfahrung von Verkehrsrichter Peter Fahlenkamp. „Vati verdient weniger, Mutti braucht mehr.“ Wenn man dann noch pausenlos im Stau stehe, entlade sich der ganze Frust schließlich auf der Straße.

Wenn der Führerschein wegen eines Rohheitsdelikts eingezogen worden ist, bedarf es einiger geistiger Klimmzüge, um ihn wiederzuerlangen. Ohne den sogenannten Idiotentest beim TÜV läuft gar nichts. „Wir gucken uns die Leute sehr genau an“, betont TÜV-Psychologin Christina Jänisch. „Mea culpa reicht nicht aus. Die Leute müssen sich schon glaubhaft mit den Ursachen für ihre Aggressionen auseindersetzen, wenn sie die Fahrerlaubnis wieder haben wollen.“ Plutonia Plarre

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen