Umlenken im Paradies der Autofahrer

■ Wieviel durch Autoabgase verursachte Krebsfälle will die Stadt sich leisten? Gegenentwurf der Umweltverwaltung zur Verkehrsplanung: Gesundheit und Umwelt sind wichtiger als freie Fahrt

„Seien wir realistisch – fordern wir das Unmögliche!“ An dieser Maxime haben sich die Verkehrsplaner der Umweltverwaltung orientiert und einen Gegenentwurf zur herrschenden Verkehrspolitik vorgelegt. Demnach sollen Umweltschutz und Gesundheitspolitik ins Zentrum gerückt werden: Umweltstandards sollen sich am gesundheitlich Vertretbaren und nicht am verkehrspolitisch Machbaren ausrichten, fordert das Papier „Ökologische Ziele für den Stadtentwicklungsplan Verkehr“, das der taz vorliegt. Grund für das radikale Umsteuern: Das Papier wirft der bisher betriebenen Verkehrspolitik Versagen vor. Deren Maßstäbe „reichen für mittel- und erst recht für langfristige Planungen nicht aus“. Mit den Planungen solle die Umweltpolitik „endlich vom Reparaturbetrieb zur vorsorgenden Zukunftsgestaltung“ werden.

Hintergrund ist die Planung zum „Stadtentwicklungsplan (StEP) Verkehr“, der die Grundlagen für die Verkehrsentwicklung der nächsten Jahrzehnte legen soll und „damit auch über die Lebensqualität entscheidet“. Bis Ende des Jahres soll der Bericht zwischen den Verwaltungen für Verkehr und Umwelt erstellt werden – „einvernehmlich“, wie es heißt. Dieses Einvernehmen aber wird schwierig: Denn die Planer von Umweltsenator Peter Strieder (SPD) werfen der Verkehrsverwaltung von CDU-Senator Jürgen Klemann nicht nur Kurzsichtigkeit bei der Einschätzung der Situation vor, sondern sie entwerfen eine eigene Strategie, wie Verkehr unter den Aspekten des Umweltschutzes auszusehen habe. Das aber bedeutet einschneidende Maßnahmen zur Senkung der Belastung durch den Verkehr: weniger Klimakiller aus den Pkw-Auspufftöpfen, weniger krebserregenden Dieselruß aus den Lkw-Motoren und weniger Lärmbelastung durch alle Autos.

Vor allem gehe es um eine „Korrektur der grundlegenden Fehleinschätzungen der Verkehrspolitik“, heißt es in dem Bericht, der inzwischen von der Ressortspitze Umwelt abgesegnet wurde. Grundfehler der Verkehrsplanung sei bisher gewesen, daß eine „nachfrageorientierte Verkehrsinfrastruktur als Rückgrat eines funktionierenden Verkehrssystems angesehen wurde“. Das größte Problem sei aber nicht das Fehlen von Straßen, sondern die „verkehrsverursachten Schadstoff- und Lärmbelastungen sowie die Verluste städtischer Qualitäten“.

Diesen Verlust führen die Autoren der Studie drastisch vor Augen: Nach einer Modellschätzung der „Länderarbeitsgemeinschaft Immissionsschutz“ (LAI) „verursacht der Verkehr statistisch rund 48 Krebs- bzw. Herzinfarktfälle pro Jahr durch Luftverschmutzung und Lärmbelastung in Berlin“. Die öffentliche Debatte aber werde von der Angst vor vergleichsweise geringen Risiken dominiert. So gebe es „immense Aufwendungen zur Sanierung von Asbestanwendungen und zur Reduzierung von Dioxinemissionen aus der Müllverbrennung, während die für die Durchschnittsbevölkerung 15fach höheren Krebsrisiken durch Dieselmotoren oder für die Anwohner des Hauptstraßennetzes 80fach höheren Herzinfarktrisiken durch Verkehrslärm quasi nicht zur Kenntnis genommen werden“.

Dabei sind die Voraussetzungen für umweltgerechten Verkehr in Berlin besonders gut, schreiben Strieders Planer: Die „Berliner Mischung“ aus Wohnen und Arbeiten ermögliche kurze, nichtmotorisierte Wege; die Zahl der Umland- Pendler sei mit 200.000 im Vergleich zu anderen Ballungsräumen „sehr gering“; die hohe Bevölkerungsdichte sei eine gute Voraussetzung für eine günstige ÖPNV- Erschließung. Und schließlich falle die Pkw-Dichte geringer aus als in anderen Städten, immerhin 47,5 Prozent der Haushalte in der Innenstadt besitzen kein Auto. Dank seiner relativ freien Straßen „ist Berlin daher – verglichen mit anderen Ballungsgebieten – noch ein Autofahrerparadies“.

Deshalb fordert die Umweltverwaltung eine offene Auseinandersetzung darüber, wieviel Verkehr die Gesellschaft ertragen will: „Bei Grenzwerten für Luftverschmutzung geht es letztlich darum, die akzeptierte Zahl von Krebserkrankungen zu bestimmen.“ Ähnliches gelte für die Verkehrssicherheit: „Mit der Festlegung der Fahrtgeschwindigkeit legt der Gesetzgeber ein bestimmtes Tötungs- und Verletzungsrisiko der Verkehrsteilnehmer fest.“ Eine solche Diskussion müsse mit Blick auf den zukünftigen StEP Verkehr jetzt geführt werden.

Für die Verhandlungen zum StEP Verkehr schlägt die Umweltverwaltung also statt des bisherigen Orientierung am Machbaren eine Orientierung am Gewünschten vor: „Umweltqualitätsziele“ sollen den Blick auf einen umweltgerechten Verkehr eröffnen. Beispiel: Der „pragmatische Umweltstandard“ für das Jahr 2010 bei Dieselruß beträgt 1,5 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Das aber entspricht einem Krebsrisiko von zehn zusätzlichen Toten auf 100.000 Einwohner. Gefordert wird dann für das Jahr 2025 ein „vorsorgeorientierter Umweltstandard“ von 0,14 Mikrogramm – also ein Zehntel des herrschenden Grenzwertes.

Ähnliches gilt für die Lärmbelastung. Laut Bericht sind 160.000 EinwohnerInnen täglich von Lärm umgeben, der „eine akzeptable Sprachverständigung im Freien selbst bei lauter Sprechweise stark behindert“. An 510 Kilometern Straße herrscht ein Lärmpegel von mehr als 70 Dezibel, der bei Bundesstraßen und Autobahnen Schallschutzmaßnahmen nach sich zieht. Eine solche Regelung sei auch in Berlin anzustreben, schreiben die Autoren.

Zur Umsetzung der umweltpolitischen Ziele gebe es viele Varianten, heißt es. Neben rein technischen Veränderungen gebe es andere, die ein Umdenken beim einzelnen erforderten oder von der Politik durch Druck und Rahmenbedingungen durchzusetzen seien. Andere Fragen, wie etwa der Flächenfraß durch die Autos in der Stadt, seien ebenso nur grundsätzlich zu diskutieren wie eine Siedlungsstruktur, die eine Ausuferung der Stadt verhindere. Die Marschrichtung in den Verhandlungen zum StEP steht für die Umweltverwaltung jedenfalls fest: „Maßnahmen zur Reduzierung des Verkehrsaufwandes sind in allen Feldern mit hohem Handlungsbedarf am wirkungsvollsten und daher prioritär.“

Das wird der zuständige Senator Klemann ungern hören. Denn für ihn gilt nach wie vor das Credo, jeder Ort der Stadt müsse mit dem Auto jederzeit erreichbar sein. Der grüne Abgeordnete und Gesundheitsexperte Bernd Köppl dagegen fordert, dieses Konzept müsse Grundlage einer ökologisch orientierten Stadtplanung und Verkehrspolitik werden. Diese aber, gibt sich Köppl realistisch, „könnte nur mit Rot-Grün realisiert werden“. Bernhard Pötter