„Ich glaube unter keinen Umständen an Verrat“

■ Günter Gaus, ehemaliger Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, über sein Verhältnis zu Herbert Wehner und dessen politische Rolle im deutsch-deutschen Verhältnis

taz: Sie haben Herbert Wehner lange und gut gekannt. Erkennen Sie ihn in dem, was Markus Wolf in seinen Memoiren schreibt, wieder?

Günter Gaus: Das, was Markus Wolf über ihn sagt und ich bisher lediglich in Teilen kenne, ist für mich nur ein weiterer Beleg für die schwere Durchschaubarkeit Wehners. Er hat mich in den Jahren, als ich viel mit ihm Umgang hatte, immer wieder überrascht. Wehner konnte von sehr eindeutigen, klaren Festlegungen, was er für richtig und für falsch hielt, auch immer wieder in tiefe Selbstzweifel darüber verfallen. Er war eine sehr widersprüchliche Person.

Überrascht Sie die Intensität der Kontakte Wehners, die er während der gesamten Nachkriegszeit zur SED und zur Staatssicherheit gepflegt hat?

Von den Kontakten zur Staatssicherheit Anfang der 50er Jahre bin ich überrascht – wenn es sie gegeben haben sollte, was ich nicht beurteilen kann. Von der Zeit an, in der er zumindest für eine eingeweihte Öffentlichkeit Kontakte wiederaufgenommen hat, also von 1973 an, überrascht mich deren Dichte kein bißchen. Wehner war, im übertragenen Sinne, ein Deutschnationaler par excellence. Sein wichtigstes politisches Anliegen war es, aus der Ohnmacht in der deutsch-deutschen Frage herauszukommen.

War das Wehners Motiv dafür, neben den offiziellen, diplomatischen Kanälen eine eigene Schiene nach Ost-Berlin zu legen?

Ganz sicher. Ich habe niemals einen Menschen kennengelernt, der so mißtrauisch war wie Wehner. Ich habe darin die Narben und sogar noch offene Wunden seiner Vergangenheit im kommunistischen Apparat gesehen. Wehner war gegenüber allen Menschen, mit denen er zu tun hatte, zunächst mal mißtrauisch. Er war eifersüchtig gegenüber jedem, der Zugang zur Macht hatte und der nicht einen solchen Ballast mit sich herumtragen mußte wie Wehner mit seiner Vergangenheit. Unter diesen Umständen war sein Mißtrauen gegenüber jeder Art von Apparat beinahe angeboren. Dieses Mißtrauen gegenüber Brandt und Schmidt, aber noch vielmehr gegenüber Bahr und später auch mir gegenüber, führte dazu, daß Wehner für sich Seitenwege öffnete.

Den Vorwurf, den ich erhebe: Er hat sich von der DDR-Seite über den Rechtsanwalt Vogel, der vielen Menschen geholfen hat, der aber eben auch ein Abgesandter Honeckers war, instrumentalisieren lassen. Er hat sich das Mißtrauen einreden lassen, von unserer westlichen Seite werde gegen die DDR draufgesattelt, und er hat dieses Mißtrauen bei Schmidt abgeladen. Das hat unsere Position gegenüber der DDR verschlechtert.

Ist Wehner dabei zu weit gegangen? Hat er Brandt und Schmidt in Ost-Berlin verraten?

Nein. Ich habe Wehner über beide, über Schmidt und Brandt, entsetzlich schlecht reden hören, aber es gibt einen großen Unterschied zwischen seinem Verhältnis zu Brandt und dem zu Schmidt. Er hat Schmidt als viel günstiger empfunden für das, was er politisch mit der DDR wollte.

Wehner hatte nicht nur politische Beziehungen zur DDR, sondern auch ein persönliches Verhältnis zu Erich Honecker. Hat er diesen privaten Kontakt mißbraucht, um seine politischen Interessen durchzusetzen?

Ich glaube unter gar keinen Umständen an Verrat. Ganz gewiß war das Bedürfnis Wehners, in die Exekutive hineinzuwirken, groß genug. Seine persönlichen Beziehungen hat er auch isoliert ausgenutzt, also manches vorangetrieben, ohne jeden Tag im Kanzleramt Bericht darüber zu geben. Er hat sich das Recht auf Selbständigkeit herausgenommen. Aber ich würde die persönliche Beziehung Honecker-Wehner nicht überinterpretieren wollen. Beide waren Leute aus der Zeit des Widerstandes gegen die Nazis, von daher gab es Bindungen. Doch Honecker, einige Jahre jünger als Wehner, gehörte nicht zu denen, mit denen Wehner Umgang hatte, bevor er emigrieren mußte.

Markus Wolf schreibt, Wehner schien sich am Ende seiner politischen Karriere mit der Sache des real existierenden Sozialismus zu identifizieren. Hat Wehner ein politisches Doppelleben geführt? Gibt es einen echten und einen falschen Wehner?

Weder noch. Eines hat den Kommunisten und Sozialdemokraten Wehner ein Leben lang beschäftigt: die Versöhnung der Arbeiter mit dem Staat. Von daher mag ihm eine Art staatlicher Sozialismus gar nicht unsympathisch gewesen sein. Aber die Formulierung von Wolf ist etwas fürs Feuilleton. Interview: Jens König