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■ Politiker und Leitartikler beschwören in letzter Zeit oft das Gemeinwohl. Doch eine Demokratie lebt von KonfliktenDie antidemokratische Versuchung

Das Aufsehen, das Roman Herzog mit seiner „Berliner Brandrede“ erregt hat, verebbt allmählich. Der Mehrheit der Bevölkerung hatte der Bundespräsident offenbar aus dem Herzen gesprochen.

Wenig Beachtung haben indes jene Passagen der Rede gefunden, in denen Herzog seine Vorstellungen über Konfliktregulierung und Interessenvertretung in Zeiten sozialer Krisen, über Demokratie und Pluralismus entwickelt. In den Kontroversen um die Sicherung der Renten, des Gesundheitssystems oder die Steuerreform sieht er „Vetogruppen“ am Werk, die „Sonderinteressen“ über den „Gemeinsinn“ und die „Gemeinschaft“ stellen.

Herzog appelliert wiederholt an den Gemeinsinn, beschwört den Gemeinschaftsgeist, fordert Visionen zum „Aufbruch ins 21. Jahrhundert“. Seine Schlußfolgerung: „In Zeiten existentieller Herausforderung wird nur der gewinnen, der wirklich zu führen bereit ist, dem es um Überzeugung geht und nicht um politische, wirtschaftliche oder mediale Macht.“

In das gleiche Horn bläst nun auch Niedersachsens sozialdemokratischer Ministerpräsident Schröder in einem kürzlich erschienenen Spiegel-Beitrag. Er kritisiert die Unfähigkeit „der Eliten, das als richtig Erkannte durchzukämpfen, sich notfalls dafür verprügeln zu lassen“. „Leadership“ nennt man das in Amerika. Auch Schröder beklagt das „Gestrüpp organisierter Interessen“, die „Vetogruppen“, die Chaos anstifteten – und preist „Optimismus“ und „Visionen“ als Therapie. Herzog und Schröder stimmen mit ihrem Bariton in den Chor anderer Politiker, aber auch vieler Leitartikler ein. Man gewinnt den Eindruck, als sollten gesellschaftliche Konflikte nicht mehr durch politische und soziale Interessenvertretungen, also durch die Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, im demokratischen Widerstreit verhandelt und, wenn möglich, ausgeglichen werden. Nein, gegensätzliche Interessen sollen sich einem vermeintlichen „Gemeinsinn“ und einer vermeintlichen „Gemeinschaft“ unterordnen. Zugespitzt formuliert: Sozial und politisch unterschiedliche Interessen, etwa von Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern, Arbeitnehmern und Arbeitgebern, haben in Zeiten sozialer Krisen keinen Anspruch mehr auf pluralistische Vertretung.

Gerade aber in Zeiten sozialer Krisen, zunehmender sozialer Ungleichheit, steigender Massenarbeitslosigkeit und Armut treten gegensätzliche soziale Interessen zwischen abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen einerseits und Arbeitgebern andererseits deutlich zu Tage. Dann zeigt sich in der Marktwirtschaft, daß es keinen wie auch immer gearteten „Gemeinsinn“ und keine „Gemeinschaft“ mit einheitlicher Interessenlage gibt. Gerade dann ist der demokratische Widerstreit gefragt, und es zeigt sich, wie stabil eine Demokratie ist.

So paradox es angesichts der aktuellen Debatte klingen mag, aber insbesondere die gescheiterten Verhandlungen um die Steuerreform sind ein gutes Beispiel, um zu demonstrieren, was gemeint ist. Daß sie geplatzt sind, hat nichts damit zu tun, daß sich die Unterhändler von CDU/CSU, FDP und SPD in irgendwelchen „dogmatischen Schützengräben“ verschanzt hatten, sondern damit, daß gegensätzliche Konzepte und Interessen nicht auf einen Nenner gebracht werden konnten. So setzt die Koalition vorrangig auf eine Senkung des Spitzensteuersatzes für gewerbliche Einkommen und damit auf eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Dazu FDP-Chef Wolfgang Gerhardt: „Unternehmen brauchen einen Steuersatz, der international wettbewerbsfähig ist.“ Den Sozialdemokraten geht es in erster Linie darum, die Steuerbelastung für niedrige und mittlere Einkommen zu reduzieren, um die Massenkaufkraft anzukurbeln. Sie verfolgen eher eine nachfrageorientierte Politik. Warum sollten sich die Kontrahenten einigen müssen? Würde man grundsätzlich eine Einigung fordern, wäre das sogar fatal. Die parlamentarische Opposition hat nicht die Aufgabe, Steigbügelhalter der Regierung zu sein, sie hat die Regierung vielmehr zu kontrollieren und Interessen sozialer Gruppen zu artikulieren, von denen sie meint, daß die Regierung ihnen nicht ausreichend Rechnung trägt. Dies ist eigentlich selbstverständlich, wird aber offensichtlich doch in Frage gestellt. Ist die Bundesrepublik also nur eine Schönwetterdemokratie?

Gut: „Partei“ kommt von pars, Teil der Gesellschaft. Parteien mögen den Anspruch haben, das Gemeinwohl zu vertreten. Eine Partei repräsentiert aber tatsächlich und legitimerweise die Interessen eines Teils des Volkes. Noch eindeutiger gilt dies für die Verbände: Völlig zu Recht und aus guten Gründen bemühen sich diese um die Wünsche, Bedürfnisse, Interessen ihrer Klientel. Erst in einem langwierigen, mühsamen und beschwerlichen Aushandlungsprozeß werden zwischen Parteien und Interessengruppen Kompromisse gesucht, wird schließlich ein Konsens gefunden.

„Das Gemeinwohl“ kennt niemand im voraus. Erst im nachhinein, eben nach diesem schwierigen Prozeß von Verhandeln, Geben und Nehmen, Taktieren und Finassieren, kann rückblickend gesagt werden, was denn „das Gemeinwohl“ sei – oder sich als solches darstellt.

Interessenkonflikte finden gerade dann statt, wenn es um „das Eingemachte“, um den staatlichen Haushalt und um die Steuern geht, wenn ökonomische und soziale Verteilung auf der Tagesordnung stehen. Dann ist langer Atem angesagt.

Warum soll das, wenn wir – wie gegenwärtig – in das rauhe Wetter sozialer und wirtschaftlicher Auseinandersetzungen geraten, nicht mehr gelten? Warum Katastrophenszenarien, wenn der „Steuergipfel“ platzt? „Gipfelgespräch“ – das heißt doch nicht mehr, als daß informell zwischen den Parteien Spielräume ausgelotet werden. Kommt man zu keinem Ergebnis, dann geht es in die Gremien, die das Grundgesetz vorsieht, bis hin zum Vermittlungsausschuß – ganz normal, so what? Die Spielregeln einer demokratischen Verfassung sollen ja gerade die friedliche, auch öffentliche Konfliktaustragung zwischen Parteien und Verbänden möglich machen.

Lugt mit dem Ruf nach „Gemeinsinn“ und „Gemeinschaft“ nicht das alte deutsche Harmoniebedürfnis hervor, die Vorliebe für „Große Koalitionen“ – auch in Meinungsumfragen die beliebteste Konstellation? Wetterleuchtet da nicht der Anti-Parteien- und Anti- Verbände-Affekt, der deutsche Autoritarismus, die obrigkeitsstaatliche Tradition, frei nach dem Motto „Die da oben sollen sich doch nicht immer streiten“? Kommt da nicht die Erinnerung an Wilhelm II. hoch, der zu Beginn des Ersten Weltkrieges keine Parteien, sondern nur noch Deutsche kennen wollte?

Konflikte nicht zu verdecken, sondern auszutragen, nicht gleich nach Gemeinwohl und Gemeinsinn rufen, nicht die Verbände verfluchen, darauf käme es gerade bei schlechtem Wetter an. Nur wenn das gelingt, ist unser obrigkeitsstaatliches Erbe überwunden. Ursula Birsl, Peter Lösche

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