: Gnadenlose Sparwut
■ Kasse: Nachbarin soll Insulin spritzen
Die 87jährige Diabetikerin lebt allein, manchmal ist sie desorientiert. Dafür, daß sie regelmäßig ihr Insulin bekommt, sorgte bislang eine Hauskrankenpflegerin. Doch nun hat die Krankenversicherung die Übernahme dieser Kosten gestrichen. Die alte Dame möge sich doch bitte an Angehörige oder Nachbarn wenden. Die Kasse bezahle eine solche Behandlungspflege nur noch ausnahmsweise länger als vier Wochen. Der Fall der 84jährigen ist nur einer von vielen, berichtete jetzt Uwe Clasen, der Hamburger Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Hauskrankenpflege e.V.(AGH).
Hintergrund ist ein vom Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen verabschiedeter „Abgrenzungskatalog“für die medizinische Behandlungspflege. Demnach sollen das Insulinspritzen, das Blutdruckmessen oder der Verbandswechsel über einen längeren Zeitraum als 28 Tage aus dem Leistungskatalog der Kassen herausfallen und nur noch in Sonderfällen von der Kasse finanziert werden. Ausnahmen müssen vom Medizinischen Dienst der Versicherungen genehmigt werden.
Diese Gutachten bereiten der AGH arge Kopfschmerzen: „Wir haben massenhaft Fälle von bis zu 97 Jahre alten Patientinnen, deren offene Beine nicht mehr gewickelt werden, oder die den Hinweis bekommen haben, sich von der berufstätigen Nachbarin oder vom blinden Ehemann helfen zu lassen“, sagt Uwe Clasen.
Viele Pflegebedürftige sehen keine andere Möglichkeit, als die Krankenschwester selbst zu bezahlen, die vorbeikommt, um die Einnahme von täglich 14 verschiedenen Medikamenten zu überwachen, Katheter zu wechseln oder Augenbäder vorzunehmen. Wenn die Ersparnisse erschöpft sind, müssen sich die vorwiegend älteren Patienten ans Sozialamt wenden oder ins Krankenhaus einweisen lassen. Für den (ungleich teureren) Klinikaufenthalt kommen die Kassen offenbar gern auf – kommentarlos.
Da sich derartige Fälle häufen, hat die AGH in Zusammenarbeit mit ihrer Anwaltskanzlei ein Projekt mit dem Titel „Wir wollen, daß Sie Ihr Recht bekommen“aufgelegt. Den Patienten, die zuhause gepflegt werden, soll zu den Leistungen verholfen werden, auf die sie eigentlich einen Anspruch haben. Das Rechtshilfeprojekt ist unter lian
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