: Der Schnitt des Jahrhunderts
Für seine Memoiren ist George Martin, der Mann, der die Beatles produzierte, noch einmal in den Bauch der Sechziger hinabgestiegen. 30 Jahre nach „Sergeant Pepper“ wissen wir: Es war auch eine Liebesgeschichte ■ Von Thomas Groß
Eigenartig, daß „Sergeant Pepper's Lonely Hearts Club Band“, das Album, das die Welt veränderte, am Tag erschien, bevor in Berlin der Student Benno Ohnesorg von einer Polizeikugel getötet wurde. Und vielleicht doch mehr als ein symbolischer Vorsprung. Im Unterschied zu deutschen Versuchen, das Schweinesystem wegzubomben, kam die peppersche Bewegung 1. Juni als Travestie einer Marching Band daher, Ergebnis eines leichten, karnevalistischen Umgangs mit Uniformen, Schnurrbärten und dem ganzen militaristischen Plunder. Und während die Speerspitze der Berliner Studenten, selbst leicht bellend, „Ho Ho Ho Chi Minh“ skandierte, lauteten die Slogans der Beatles „It's getting better all the time“, „I get by with a little help from my friends“ oder „It doesn't really matter if I'm wrong I'm right“.
Viel ist seither geschrieben worden über den 67er „Summer of Love“, die Hippie-Symphonie No.1 und die Tatsache, daß von deutschem Boden so wenig gute Popmusik ausgegangen ist. Die Geschichte der Beatles im allgemeinen und ihres bahnbrechendsten Albums im besonderen ist dokumentiert, analysiert, katalogisiert, schnurzifiziert, die kommerzielle Ausbeutung ihrer Memorabilia in ein Stadium eingetreten, das mittlerweile selbst wie ein Alpdruck auf den Generationen lastet.
Bloß der Mann, der das Pepper- Baby damals auf die Welt bringen half, verhielt sich über die Jahre erstaunlich ruhig. Erst jetzt erschienen seine Memoiren auf deutsch, ein schmales Bändchen der Making-of-Machart, das allerdings mit dem Anspruch auftritt, echte Erinnerungsarbeit zu leisten, sogar – wie viele Nachträge zu großen Zeiten – etwas Testamentarisches hat: „Das ist meine Version der Ereignisse, also muß es die richtige sein!“
So spricht jemand, der es einmal gewohnt war, zu befehlen. „Am 6.Juni hatte ich bei den Aufnahmen mit den Beatles beschlossen, daß Pete Best gehen mußte“, schreibt George Martin, Produzent der berühmtesten Band der Welt, über die ersten Begegnungen im Studio 1962. Was er bestenfalls streift: daß die Musiker und Techniker in den Londoner Abbey Road Studios ihn – Ex-Flottenluftwaffe, korrekt gescheitelt und mit besten Manieren – damals den „Herzog von Edinburgh“ nannten. Was er ebenfalls bloß andeutet: daß Parlaphone, die Tochterfirma von EMI, bei der er im zivilen Leben angelandet war, in der Branche einen Ruf als „Schrottlabel“ hatte – ein eher totes Gleis für Komiker, Schnulzensänger und andere Auslaufmodelle. Was Martin immerhin klar ausspricht: Ein gewisser Anschub konnte seiner Karriere in den frühen Sechzigern alles andere als schaden.
„Ich brauchte etwas ganz Neues, so etwas wie meinen eigenen Cliff Richard“ – die Urszene des zukünftigen Welthits kommt als schnöder Warentest daher. Martin, der sich selbst einmal in einer Band namens „George Martin and his Four Tune Tellers“ (kein Witz!) versucht hat, schaut den vier Pferdchen aus Liverpool ins Maul, „die ganze Zeit, während sie spielten, dachte ich: ,Wer von ihnen sieht am besten aus? Wer von ihnen hat die beste Stimme?‘“
So weit entspricht das dem bis dahin üblichen Verfahren eines Managers oder Impresarios. Doch da ist noch etwas anderes, und die Erinnerung ist präzis genug, es zu verzeichnen. Ausgerechnet als die Gruppe ihrem künftigen Producer das erste Mal „Love Me Do“ vorspielt, fällt es dem „wie Schuppen von den Augen“, begreift er, daß hier eine Gruppe spielt, kein Einzelkünstler. Und „das war auch dieses besondere ,Etwas‘, das ich unbewußt auf der Demoplatte bemerkt hatte“.
„Unbewußt“, „Schuppen von den Augen“, „besonderes Etwas“ – Martin hat sich ganz offenkundig verliebt in dieses neue Bandwesen und seine Aura. Es handelt sich um die Beschreibung einer Art Objektwahl: Ein Mann wählt sich nicht nur einen Goldesel, sondern auch seine kreative Zukunft – und das gegen seine eigene konservative Ader. Wäre so etwas in Deutschland auch nur im entferntesten denkbar gewesen? Man muß sich das einmal klarmachen: Langhaarige! Proleten! Der superkorrekte George Martin, ein Gentlemantyp, wie er im Buche steht, darüber hinaus Sohn Britanniens, der seine Prägung durch das Militär an keiner Stelle verbergen kann („musikalische Splittergranate“ nennt er das „Pepper“-Album tatsächlich im Prolog), ist sensibel genug, den Charme und das Potential einer neuartigen, alles andere als aristokratischen Ausstrahlung zu erkennen. Und die Band, die allerdings auf a little help angewiesen ist, duldet ihn als väterliche Autorität, als „Big George“, der Ahnung von Klassik und so was hat, das „clevere Zeugs“ (Martin) in die Arrangements bringt und sich im Lauf der Jahre mehr und mehr vom Kommandeur zum Kollaborateur entwickelt. Teils zwangsläufig.
Mehr als die vielen Pepperiana, die Martin in seinem Buch beisteuert – wer wo was genau auf welcher Spur gespielt hat, daß der Kellog's- Hahn am Anfang von „Good Morning, Good Morning“ aus Band 35 von EMIs Soundeffekt-Bibliothek stammt und das Klopapier in den Abbey Road Studios DDR-dünn war (mit Aufdruck „Eigentum von EMI“!) –, ist es die Erinnerung an diese psychologische Konstellation, die das Erzählen trägt. Es wird spürbar, daß Martin tatsächlich noch einmal hinabgestiegen ist in den Bauch einer experimentellen Situation, die auch seine eigenen Möglichkeiten bis an den Rand strapaziert haben muß: „Er war der Vernünftige, wir die Verrückten“ (George Harrison) – doch das Band hält. Stolz schwingt mit, wenn ein Lennon-Krächz- Song zum Geniestreich emporproduziert oder mit den vorsintflutlichen Mitteln der späten Sechziger ein hübscher futuristischer Effekt erzielt wurde; gelegentlich auch eine leichte Enttäuschung, wenn wieder einmal klargeworden ist, daß die Geschichte ihre Credits wohl zu Martins Ungunsten verteilen wird. Der Grundgestus ist jedoch das neidlose Anerkennen einer Leistung, bei der ihm selbst bloß die Rolle eines Geburtshelfers, eines (wenngleich mächtigen) Assistenten zugedacht ist: „sie alle brachten mir ihre Werke mit, so wie Katzen ihre erlegten Spatzen anschleppen“.
Ohne diesen eigenartigen, im Grunde eher unwahrscheinlichen Generationenfrieden hätte es „Sergeant Pepper“ kaum gegeben. Auch die vielen, teils bekannten Geschichten aus der Produktion, deren eigene Version Martin hier nachliefert, verlieren ihr bloß Anekdotisches, wenn man sie als Ausdruck eines latenten Konflikts zwischen der erzkonservativen, superknausrigen EMI und vier aufstrebenden Jungs-Genies faßt – eines Konflikts, den der „Herzog von Edinburgh“ immer wieder neu schlichtet. Die Beatles wollen ein ganzes Symphonieorchester für „A Day In The Life“ – Martin gibt ihnen ein halbes (tut's auch). John Lennon schwebt eine Dampforgel für die Kirmesatmosphäre von „Being For The Benefit Of Mr. Kite“ vor – Martin improvisiert, indem er Tonbandschnipsel mit Dampforgelmelodien zu einer Soundtapete collagiert. Die Beatles bestehen darauf, zwei Liedteile in völlig unterschiedlichen Tonarten und Geschwindigkeiten zusammenzubringen – Martin rechnet ein bißchen, dreht an der Zeitachse und besorgt ihnen den „Schnitt des Jahrhunderts“.
Man darf das wörtlich nehmen. Seit „Sergeant Pepper“ und dem Sommer der Liebe ist endgültig – und bald überall – nichts mehr, wie es in den alten Zeiten, den Nachkriegsjahren und den Fünfzigern war.
Und trotzdem: Als reinen Ausdruck eines antiautoritären Impulses kann man das Album zum Sommer nach Lektüre dieser Memoiren beim besten Willen nicht mehr verstehen. Eher im Gegenteil. „Pepper“ ist eine hochsynthetische, laborgeborene Leistung, die sowohl unterschiedliche Lebensalter als auch verschiedenste Stile friedlich zusammengebracht hat: nostalgische Vaudeville-Charmer („When I'm Sixty Four“), ambitionierte Melodramen („She's Leaving Home“), Anleihen aus Fernost („Within you, Without you“), Roots-Rocker, die eine verlorene Ursprünglichkeit heraufbeschwören („Pepper“, das Titelstück), Schülerscherze („Lovely Rita Meter Maid“), das Ganze im Grunde nicht einmal durch ein wirkliches Konzept zusammengehalten, sondern bloß durch die Idee einer Tingeltangelkapelle und einen einzigen Wunsch: „I'd love to turn you on“.
Martin selbst nennt das Kind, in Ermangelung eines besseren Labels, „ein merkwürdig englisches Album“ – sozusagen ein Urmodell für Britpop: bei aller Verspieltheit nicht protzig, Exportware, ein Markenzeichen eben, mehr Rolls- Royce als Cadillac. „,Pepper‘ hat Stil, weil es zurückhaltend ist. Wir wußten, wann es genug war.“
Hier spricht, mit einem gewissen Understatement, noch einmal der disziplinierte Mann von der Luftwaffe. In seinen Augen hat er bloß seinem Land gedient.
George Martin: „Summer Of Love. Wie Sgt. Pepper entstand“. Henschel Verlag, 218 S., 29,90DM
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