Unwegsamer Traumkiez

Die Kastanienallee in Prenzlauer Berg wandelt sich. Überall wird saniert, doch mit dem Kollwitzplatz kann die Straße noch nicht mithalten  ■ Von Christoph Dowe

Die Frühlingssonne macht das Gelb der Wände im Falaffelladen „Kamun“ auf der Sonnenseite der Kastanienallee in Prenzlauer Berg noch gelber. Ghanaische Musik dröhnt bis vor die Tür. Der Mann hinter dem Tresen summt laut mit und bastelt einen Grünkernburger. Draußen, auf einer der verrotteten Holzbänke, die auf dem breiten, geschundenen Gehweg der Kastanienallee immer wieder in der Landschaft stehen, sitzen zwei schöne Lockenköpfe und genießen die Wärme. Es riecht nach verbranntem Hanf. Mittag auf der Kastanienallee.

Die Kastanienallee hat sich gewandelt. Die Hälfte der Bewohner sind seit der Wende aus Prenzlauer Berg weggezogen. In der „Kastanie“, liebevoll auch einfach „K“ genannt, übernahm studentisches Milieu den Kiez. Häuser wurden besetzt und als Selbsthilfeprojekte renoviert. Vor der „K 77“, dem ältesten Haus in Prenzlauer Berg, nahm die Hausgemeinschaft im vergangenen Jahr vom Deckel des Schuttcontainers die 1.-Mai-Demo ab. Mechanisch winkend, in Pelzmützen und DDR-Uniformen. Dieses Jahr flogen an gleicher Stelle Steine gegen Grünbehelmte.

Viele, für die die Kastanie ein Traumkiez ist, schätzen den morbiden Charme der bröckelnden Fassaden – aber am liebsten betrachtet man ihn am Nachbarhaus. Immer mehr Häuser im Sanierungsgebiet Teutoburger Platz werden aufwendig renoviert. Die meisten davon sind in privater Hand. Doch während die eine oder andere Penthousewohnung entsteht, bleibt der Kiez arm. Mehr als die Hälfte der Wohnungen im Sanierungsgebiet haben kein Bad.

Und die Mieten steigen. In der kleinen Drogerie an der Ecke Oderberger Straße hängt ein Foto vom Anfang des Jahrhunderts, als in dem Eckladen bereits Seife verkauft wurde. Da war die 1826 angelegte Straße schon 75 Jahre alt. „Gerade mal so“ komme man heute über die Runden, sagt die Besitzerin des Ladens. Mit der Konkurrenz der nahen Drogerie- Großketten hat sie hart zu kämpfen. Jetzt soll sich auch noch die Miete verdoppeln, auf mehr als 40 Mark pro Quadratmeter. Genau wie für den benachbarten Tabakladen ist das das Ende. „Wir müssen dichtmachen. Die Kleinen werden aus dem Kiez vertrieben, das passiert ganz schleichend“, sagt Tabakverkäuferin Holzkamp, die seit 49 Jahren in der Gegend lebt und den Tabakladen kurz nach der Wende übernommen hat. Auch sie kramt uralte Fotos hervor, die den wilhelminischen Gründer in seinem Geschäft zeigen, vor den gleichen Holzregalen und Vitrinen, die noch heute in dem winzigen Laden stehen.

Der Heimwerkermarkt auf der anderen Straßenseite machte schon vor einem Jahr dicht, als die Miete über 3.000 Mark kletterte. „Koof uffm Kiez“ hatte kurz vor dem Ende noch trotzig im Schaufenster geprangt. Genutzt hat es nichts. Jetzt soll hier ein Imbiß einziehen. Der fünfte, der seit Anfang des Jahres in der Straße aufmacht. Gleichzeitig stehen viele Läden seit langem leer, weil nur Großketten und umsatzstarke Kneipen solche Preise zahlen können.

Vor allem das quirlige Gewerbeleben unterschied die Kastanie bislang von vielen anderen Straßen. Sabine Schilf, zuständige Stadtplanerin für das Sanierungsgebiet bei der „Gesellschaft für behutsame Stadterneuerung“ (S.T.E.R.N.) findet, daß diese Lebendigkeit noch nicht verlorengegangen ist. Doch auch sie redet von einer „gewissen Flüchtigkeit“, die das Viertel inzwischen prägt.

So richtig schick wie der Kollwitzplatz oder die Oranienburger Straße ist sie nicht geworden, das schafft sie irgendwie nicht. Zu weit ab vom Schuß, vielleicht. Oder noch zuwenig Kneipen. Oder schon zu lange Baustelle. Oder zu viel Hundekacke. Irgendwie bleibt sie ramschig. Ein brasilianisches Restaurant strich die Segel, obwohl der Umsatz stimmte. Jetzt ist da ein Glücksspiel-Salon.

Kneipen gibt es dennoch genug, alte und neue. Nicht nur der angenehmen Sorte. Auf der Höhe der Zionskirche verkehrt eher die kahlköpfige Fraktion in der Eckklause „Zum Afrikaner“ – eigentlich inzwischen ein Anachronismus in dem studentischen Ambiente. Einmal wurde die rustikale Kneipe schon mit Buttersäure eingedeckt. Aber auch im „La Boum“, Ecke Oderberger, fällt einem breitschultrigen Kurzhaarigen mit einem satten „Klonk“ schon mal der Totschläger aus der Innentasche. Als die Vietnamesen an der U-Bahn noch ihre Zigaretten verkauften, kam es gelegentlich zu Rangeleien. Und dennoch: Die Heimleiterin der Aufnahmestelle für Übersiedler in der „K21“, wo ständig an die 85 Menschen auf engem Raum wohnen, sagt: „Gewalt ist hier kein Problem für unsere Klientel.“

Nachts mutiert die Straße zur Party-Zone. Die nächtlichen Gesichter sieht man selten wieder – Menschen auf Abenteuersuche im wilden Osten. Zusammen mit der Oderberger gibt es in der Gegend schon fast so viele Kneipen wie am Wasserturm. Der „Prater“ nahe dem U-Bahnhof Eberswalder Straße zieht intellektuell-hippes Publikum an wie ein Magnet. Lesungen in der „Galerie am Prater“, Hammond-Orgel und Gesang im plüschdekorierten „Schmalzwald“, Committment-Blues im Restaurant im Prater, Kresniks lautes Tanztheater auf der Bühne. Nach dem Programm sickern die Gäste tiefer in die Kastanienallee.

Immer noch ist die Kastanienallee ziemlich unwegsam. Seit Jahren wird in regelmäßigen Abständen der Gehweg aufgerissen und wieder zugeschüttet. Erst die undichten Gasleitungen, die die alten Kastanien innerhalb weniger Monate zerstört hatten. Dann Telefonkabel, merkwürdige Rohre, Bodenabsenkungen. Wenigstens die Straßenbahngleise wurden letzten Winter in glatten Straßenbelag umgebettet. An der Ecke bohren Bauarbeiter die neue Teerdecke aus verborgenen Gründen wieder auf. Auf den leeren Holzstuhl vor dem „Schwarz-Sauer“ knallt ein Stück Stuck und zerbröselt vor den Füßen. Auch diese Fassade wird bald eingerüstet.