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Der Fluß auf der Bühne

■ Im Haus der Kulturen der Welt gastiert das beeindruckende Cloud Gate Dance Theatre aus Taiwan. Ein Vorbericht nach Ansicht der Lecture Demonstration

In Taiwan ist alles ganz anders. Da wird das Cloud Gate Dance Theatre bei seinen Tourneen mit Transparenten in den Dörfern willkommen geheißen. Da fahren Familien mit Kind, Großmutter und Picknickkörben zum Theater. Über 50.000 Menschen strömen zu ihren Open-air-Aufführungen, versichert Lin Hwai- min, der die Compagnie vor 25 Jahren gründete. „Und sie lieben unsere Aufführungen“, fährt er fort, „sie kommen nach der Vorstellung und sagen, wie sehr es ihnen gefallen hat, aber verstanden hätten sie es nicht. Das macht nichts, ich verstehe es auch nicht. Auf die Erfahrung kommt es an.“

In Berlin haben kaum hundert Leute den Weg ins Haus der Kulturen der Welt gefunden, als Lin Hwai-min am Donnerstag seine Gruppe vorstellte und über die Entstehung von „Songs of the Wanderers“ erzählte. Schon ihm zuzuhören ist eine Lust. Er läßt vor uns die mit Dreck und der Asche der Toten gesättigten Fluten des Ganges vorbeitreiben, an dessen Ufer er die Gewißheit gewann, in seinem Stück einen Fluß auf der Bühne zu brauchen. Er nimmt uns mit auf den Markus-Platz in Venedig, wo er plötzlich in taiwanesischem Dialekt über die Reisernte reden hört!

Er läßt uns an einer plötzlich auftauchenden Kindheitserinnerung teilhaben, am Vergnügen, durch den nach der Ernte zum Trocknen ausgebreiteten Reis zu stampfen. Das war natürlich verboten, das Lebensmittel war kostbar; aber jetzt, auf seiner Bühne, in 3,5 Tonnen vergoldeten Reis ist es erlaubt! Er hetzt uns durch den Verkehr von Taipeh, wo der Boom der Industrie alle verrückt gemacht zu haben scheint, um dann auszuholen „... und deshalb brauche ich in meinen Stücken Raum. Um die Wahrheit zu gestehen, ich fühle, daß ich alt werde, ich nehme meinen Körper in einer sehr befremdenden Weise wahr, ich weiß genau, wo die Leber und die Nieren sitzen. Früher suchte ich die Aufregung, die Erregung des Körpers, aber jetzt ...“

Jetzt kommen die Zeiten der Meditation. Zu Beginn der Lecture Demonstration sitzen zehn Tänzerinnen auf der Bühne, die bald langsam vornübersinken, wegrollen, sich dehnen, sammeln. Selbst in den Händen, den wegtropfenden Fingern, die an die eingerollten Blattspitzen einer jungen Pflanze erinnern, zeigt sich das Fremde dieser Körpersprache. Zur Zeit hat der Choreograph seiner Truppe mehrstündige Meditationen vor den Aufführungen verordnet.

So nett in Geschichten verpackt wie seine Rede sind seine Stücke allerdings nicht. In „Nine Songs“ von 1993 rasten Männer in flatternden Regenmänteln mit dem Fahrrad über die Bühne und Frauen auf Rollschuhen umkreisen maskierte Gottheiten. Da prallten das Chaos des Alltags und die Ordnung des Rituals aufeinander und ließen verschiedene Raum- und Zeitsysteme ineinandergleiten. Das Schlußbild von 800 Kerzen, von Tänzerinnen auf die Bühne gebracht, kündigte schon die Reise des Choreographen nach innen an, die er jetzt in „Songs of the Wanderers“ fortsetzt.

Johannes Odenthal, der das Theater- und Musikprogramm im Haus der Kulturen der Welt leitet, hat das Cloud Gate Dance Theatre als wichtigste Repräsentanten des modernen Tanzes in Ostasien eingeladen. Sie liefern einer Kultur, die seit langem heterogene Einflüsse verarbeiten muß, ein Modell der Identifikation. Das liegt nicht nur an der Entwicklung einer eigenen Technik auf der Basis von Tai- Chi, modernem westlichen Tanz und Peking-Oper, sondern mehr noch an der Sensibilität, mit der Lin Hwai-min auch den Spuren der wechselhaften, zwischen der japanischen und der chinesischen Kultur hin- und hergeworfenen Geschichte Taiwans nachgeht.

Im norwegischen Bergen übrigens, der letzten Tourneestation des Cloud Gate Dance Theatre, soll „Songs of the Wanderer“ das Publikum zu Tränen der Rührung und Begeisterung hingerissen haben. Katrin Bettina Müller

„Songs of the Wanderers“, Heute, 20 Uhr, Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10

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