Nicht einmal satirefähig – die Farbe Lila

Die Tragödie der Protestanten: Sie haben keine Heiligen und erst recht keine Schurken. Ein Stoßgebet  ■ Von Severin Weiland

Die deutschen Teenager haben Tic Tac Toe, die CDU noch Helmut Kohl und die katholische Kirche ihren Karol Wojtyla. Nur die Protestanten, die haben niemanden, auf den sie all ihr Glühen, ihre Freuden und Abneigungen richten können. Als der Papst im vorigen Jahr am Brandenburger Tor ausstieg, mischten sich unter den Applaus auch gellende Pfiffe. Undenkbar, daß dies einem evangelischen Bischof geschehen wäre: Die Würdenträger der evangelischen Kirche wirken wie Funktionäre – da lohnt kein Buh und kein Bäh.

Was die evangelische Kirche so sympathisch von ihrem katholischen Konkurrenten abhebt, wird ihr im Medienzeitalter zum Verhängnis: Ihre schlichten Gewänder wirken nun bleich, ihre Ausstrahlung kühl. Die Askese, die einst Luther gegen den Popanz des katholischen Klerus zum Dogma erhob, erschwert den Protestanten den Zugang, ja den Verbleib auf der öffentlichen Bühne.

Ihr fehlt, was Katholiken im Überfluß genießen können: eine Politik, die sich an Personen festmachen läßt, an Bösen und Guten. Da der liberale Bischof Lehmann, dort der orthodoxe Bischof Dyba oder der stramme Glaubenswächter Ratzinger in Rom. Und über allen thront der Papst, ebenso entrückt wie der Vater der Kelly Family. Er zeigt Präsenz – ob als Objekt des Respekts oder der Abneigung. Jedenfalls ist er ein Markenzeichen, das allen kennen und – wichtiger – wiedererkennen. Die Industrie weiß dies längst: Kürzlich schenkte Mercedes-Benz dem Papst einen neuen Glaskasten auf Rädern, ein Papa-Mobil.

Insofern ist die konservative katholische Kirche heute ziemlich modern. Sie beherrscht – unfreiwillig durch Beharren auf den tradierten Symbolen – den kommunikativen Diskurs. Nur wer symbolische Handlungen zu zelebrieren weiß, ist in. Und nur derjenige, der Glanz und Glamour versprüht, hat gute Chancen, nicht sofort dem Vergessen anheimzufallen.

Die evangelische Kirche hingegen verhält sich dagegen rührend hausbacken. Sie glaubt noch immer an die Wirksamkeit des Wortes. Das aber wird kaum noch wahrgenommen. Beschlüsse von Synoden mögen Kirchenmitglieder und Journalisten interessieren, der Mehrheit der Protestanten sind sie so gleichgültig wie das Kirchengeläut am Sonntag, das verzweifelt zum Gottesdienst einlädt.

Dabei kann die protestantische Kirche vom Wort nicht einfach lassen; es ist Bestandteil der evangelischen Tradition: Immerhin war es Martin Luther, der mit seinen Thesen den ersten Schritt zur Abspaltung von Rom auslöste. In einer Welt aber, die von Bildern überflutet wird, ist das Wort meist nur noch Beiwerk und unsinnlich zudem. Um dieses Dilemma weiß die evangelische Kirche schon seit langem, und weiß doch keinen Rat.

So bleibt als einer der wenige Ersatzhandlungen der Kirchentag. Auf diesem Mammuttreffen wird alle zwei Jahre das Bedürfnis nach Gefühl und Amüsement befriedigt. Hier darf die evangelische Kirche sich feiern: Hundertausend Menschen an einem Ort, Marktstände, Buntheit und Vielfalt – als ob es ein christianisiertes Woodstock sein möchte, wenn auch eines ohne Teufel oder das Böse. Bei Protestanten haben sich alle lieb – trostlos.

Doch auch bei diesen Anlässen verfolgt den Protestanten noch schlechtes Gewissen. Bloß nicht zu viel Pomp, scheint die Devise der Kirchentage zu sein. Und daß bloß niemand düpiert werde: Die Tugenden der politischen Korrektheit sind vermutlich bei Evangelens erfunden worden. So fade sieht denn auch das einzige Requisit aus, das auf Kirchentagen gemeinsam getragen wird – das lila Tuch. Doch selbst dieses bescheidene Symbol bleibt der weihrauchfreien Ethik verhaftet. Diese Tücher sind so bläßlich wie schlicht und wirken so glamourös wie Biotonnen oder schlecht gestrickte Pullover.

Die Farbe, merkwürdig kraftlos, war unbeabsichtigter Ausdruck des linksliberalen Konsens innerhalb der protestantischen Kirche. Ein wenig Freude durfte schon gezeigt werden, aber nicht zu knallig – eben nur lila. Die Abdankung der Birkenstock-Generation, die sich freiwillig der körperlichen Unauffälligkeit verschrieben hatte, überraschte die evangelische Kirche. Die Jugend der Neunziger belächelt diese Protagonisten der Achtziger nur noch mitleidig.

Statt dessen war Show angesagt: Auf MTV oder Viva wurde Karneval zum Dauerevent – da war der Papst wieder modern. Und zwar nicht nur in Polen, wo seine Audienzen millionenfach besucht werden, und die Menschen dennoch eine Einmischung des Klerus in die Politik ablehnen. Evangelische Repräsentanten aber taugen selbst als Zielscheibe von Spott kaum – sie sind die großen Unbekannten. Und Nobodies lassen sich nun einmal nicht vermarkten. Amen