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„Die Kirche spielt in der Gesellschaft keine Rolle mehr“

■ Hans-Jochen Tschiche über die evangelische Kirche in Ostdeutschland vor und nach der Wende

taz: Kürzlich wurde der Abschlußbericht der evangelischen Kirche in Deutschland zur Stasi- Verstrickung von DDR-Kirchenmitarbeitern vorgelegt. Kann dieses Kapitel geschlossen werden?

Hans-Jochen Tschiche: Nein, weil der Hinweis darauf, daß nur ein bis zwei Prozent der Kirchenmitarbeiter mit der DDR-Staatssicherheit verbandelt waren, das Verhältnis der Kirche zur DDR nicht hinreichend beschreibt.

Wie sah das Verhältnis aus?

Die Kirche war in der Zwickmühle. Einerseits wollte sie als Großorganisation weiter bestehen, andererseits sollte sie sich für Glaubensfreiheit und Menschenrechte einzusetzen. Ob man das durch Anpassung oder durch klare Worte erreicht, war umstritten.

War die Mehrheit der kirchlichen Oberen zu diplomatisch?

Ich meine ja. Es gab ja innerhalb der Kirche eine Spaltung zwischen Oppositionsgruppen und der Amtskirche. Erstere distanzierten sich vollkommen vom Staat. Die „Kirche im Sozialismus“, wie es dann offiziell hieß, stellte dagegen das sozialistische Regime nicht in Frage und suchte das Gespräch. Sie versuchte, möglichst viele Schutzfunktionen für die Bevölkerung auszuüben. Ich habe mich oft über meine Kirche geärgert, weil ich eher zum Widerstand neigte.

Hätte die Kirche sich überhaupt, zum Beispiel für Kriegsdienstverweigerer, einsetzen können, ohne sich teilweise auf das Regime einzulassen?

Genau das war immer unklar und notwendig umstritten. Deshalb ist die Klassifizierung in aufrechte Christen und in die Kirche als Verräter viel zu einfach.

Wie sah die Entwicklung der Kirche zu DDR-Zeiten aus?

Bis zum Mauerbau war sie eine Volkskirche und blieb wesentlich gen Westen orientiert. Als klar wurde, daß das DDR-Regime kein Interregnum bleiben würde, folgte ein längerer Prozeß der Verunsicherung. Schließlich setzte sich Ende der sechziger Jahre der Wille durch, sich der realen Situation zu stellen, etwa im Sinne von „Gott hat uns hierher gestellt, also haben wir hier zu leben“.

Anfang der achtziger Jahre begann auch in der DDR die Diskussion um das Wettrüsten.

Damals wurden wir zur treibenden Moderatorin des Übergangs, weil die DDR-Führung keinen moralischen Kredit besaß.

Mitglieder hat die Kirche trotz Arbeit an „Schwertern zu Pflugscharen“ kaum hinzugewonnen.

Dennoch war unsere Akzeptanz in der Gesellschaft ziemlich hoch. Pfarrer galten als vertrauenswürdig, und zwar weit über den innerkirchlichen Kreis hinaus.

Wobei nach 1989 das Ansehen der Kirche rapide sank.

Ein Schock, ja. Für seelische Entlastung, die zuvor ohne Angst nur bei uns gesucht werden konnte, waren jetzt viele andere Einrichtungen der Gesellschaft da.

Wie sehen Sie acht Jahre nach der Wende den Zustand der ostdeutschen Kirche?

Als einen der tiefen Verunsicherung. Die Kirche spielt in der Gesellschaft kaum noch eine Rolle. Und wir haben keine Antwort darauf, wie man als eine Minderheit von höchstens 15 Prozent in der Gesellschaft agieren sollte.

Hält die Kirche zu sehr an traditionellen Strukturen fest?

Die Kirche ist so mit dem Lecken der eigenen Wunden beschäftigt, daß sie keine innere Kraft hat, darüber überhaupt nachzudenken. Ideen zur Veränderung? Fehlanzeige. Hinzu kommt, daß die zunehmende Individualisierung in der Gesellschaft für Großinstitutionen verheerend ist. Die Großkirchen sind im Greisenalter und siechen langsam hin.

Sie lassen alle Hoffnung fahren?

Nein, ich werde darüber nicht gleich depressiv. Die Kirche jedenfalls muß zur Wächterin der Menschlichkeit werden. Und verstärkt gegen soziale Ungleichheit und Umweltzerstörung antreten.

Hat damit die Kirche heute noch eine Stimme?

Einen Versuch wäre es zumindest wert. Interview: Annette Kanis

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