: Die Salzstangenorgie
Kreischende Männer und kauende Frauen bei der ersten CSD-Filmnacht im Offenen Kanal ■ Judith Weber
Die verworrene Geschichte einer Nacht ist zu erzählen. Sie handelt von Clublesben und Bildstörungen, von puderverklebten Gesichtern und Salzstangenorgien. Die Erzählung streift kreischende Männer und kauende Frauen. Sie handelt von der ersten CSD-Filmnacht in Hamburgs Offenem Kanal.
„Noch dreißig Sekunden!“brüllt der Regisseur. Im Studio straffen vier Talkgäste die Rücken, drapieren Zettel mit stichwort-gewordenen Argumenten auf ihrem Schoß. Der Rückblick auf den 96er CSD ist vorbei, die lesbischwulen Kurzfilme ebenso. „Noch zehn, fünf ... und drauf!“Wer jetzt, am Mittwoch gegen 22 Uhr, den OK eingeschaltet hat, sieht zwei Männer und zwei Frauen im Strahlerlicht sitzen. Die Schicht auf ihren Gesichtern ist halb aus Puder, halb aus Schweiß. Sie sind gekommen, um zu streiten. Thema: Haben Schwule und Lesben noch politische Perspektiven?
Zumindest haben sie Spaß, lobt die 24jährige Jannine Trampenau. „Politik und Lebendigkeit schließen sich eben oft aus.“Dann lieber Kultur-Clubabende organisieren und sich „Clublesbe“nennen.
Während Jannines Sitznachbar Werner Hinzpeter beflissen nickt und zu einem Zitat aus seinem Buch Schöne schwule Welt ansetzt, gellt durch den Nachbarraum ein Kreischer nach dem anderen. Dort lockert Didine van der Platenvlotbrug ihre Stimme: Noch zehn Minuten, dann wird der selbsternannte „Tuntenimitator“deutsche Talk-shows veralbern. Dann wird Didine Männer, die als Kinder verkleidet sind, Gedichte aufsagen lassen. Und ein Stofftier ans Holzkreuz tackern. Alles ist erlaubt, solange es schräg ist. Didine kaspert herum, die Kamera beschreibt eine Acht.
Daß vom Künstler plötzlich nur noch eine silberne Silhouette auf dem Fernsehschirm sichtbar ist, fällt deshalb wenigen auf. „Wir haben kein Bild mehr“, schreit Regisseur Christian Kühn. Beim dritten Ruf reagiert jemand. Dann bewegen sich auf einmal alle, das macht die Sache auch nicht besser. Der Künstler gerät ins Stocken, Kameraleute fischen nach Kabeln zwischen den Beinen anderer Kameraleute. Zwei Minuten Chaos, dann: „Wir sind wieder drauf.“
Sowas passiert eben, weiß Christian Kühn, auch an seinem normalen Arbeitsplatz beim schwulen Fernsehmagazin „Homoviel“im Offenen Kanal. Gemeinsam mit Tina Fritsche vom lesbischen Magazin „LIS“und drei anderen Männern und Frauen hat er den Abend organisiert. Zusammen beruhigen sie die 24 lampenfiebernden Gäste, sagen Sendungen an und sorgen für ausreichend Chips und Salzstangen im Vorraum.
Dorthin läuft Jannine, kaum, daß die Talkrunde vorbei ist. Kauend wird der Schweiß-und-Schminke-Film abgewischt und der Abend gefeiert. Ob Schwule und Lesben ihren Politik-Horizont erreicht haben, hat in dieser Nacht niemand geklärt. Aber aufregend war's.
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