: Leben im Durchgangszimmer vom Glück
Liebenswert und unerträglich: In Roehampton beobachtet eine Handvoll Rentner sehr entspannt, wie hoffnungsvolle Talente und abgestürzte Tennisgrößen sich um einen Platz im Wimbledon-Hauptfeld bemühen ■ Von Christian Nialki (Fotos) und Ronald Reng (Text)
Roehampton (taz) – Der Regen kommt und bringt die Wimbledon- Atmosphäre. Hektisch versuchen Linienrichter die Rasenplätze mit Folien abzudecken, die Tennisspieler sprinten davon, ins Trockene. Es gießt, gießt, gießt. Stundenlang. Manche Spieler, deren Match unterbrochen wurde, holen sich etwas zu essen. Nudeln mit Kuchen. Die meisten liegen in der Umkleidekabine, manche schlafen, manche lesen. Alles wartet.
Der Regen ist das einzige, was bei der Wimbledon-Qualifikation an das große Wimbledon-Hauptturnier erinnert. Sobald die Sonne herauskommt, verbreitet die Ausscheidung für das bekannteste Tennisturnier der Welt den Charme einer Vereinsmeisterschaft.
Im Sportpark des „Bank of England Sports Club“ im Südlondoner Stadtteil Roehampton, gut drei Meilen von Wimbledon entfernt, fehlt all das, was ab kommenden Montag dort Einzug hält – die Hektik und der Trubel. Nur ein paar Rentner, die ihre Klappstühle mitgebracht haben, schauen zu, wie sich die in der Weltrangliste auf dreistelligen Rängen Plazierten um 16 freie Plätze im Hauptfeld streiten. Und etliche Angestellte der Bank of England, denen der Chef einen Ausflugstag angeordnet hat, sind da. Aber die interessieren sich mehr für Getränke mit Prozenten als für Aufschläge mit Karambo.
Was Besuchern als liebenswerte Idylle erscheint, sind für die Spieler allerdings „einfach unerträgliche Umstände“. So schimpft Karsten Braasch. Der Westfale fand in seinem Spiel gegen den US-Amerikaner Bryan Sheldon heraus, daß sogar zehn Zuschauer zu laut sein können. Mitten im Match kletterte Braasch auf den Maschendrahtzaun am Spielfeldrand, um demjenigen die Meinung zu sagen, der da hinter Zaun und Hecke ins Handy quakte.
Danach gab es allerdings noch immer zu viele Störenfriede für den einstigen Daviscup-Spieler. Ein Linienrichter, beschwerte sich Braasch, sei ihm zu nahe gekommen, „der schreit mir voll ins Ohr“, und sein Gegner – der hat ihn besiegt. Aus in der ersten Qualifikationsrunde für Braasch (29), der 1994 auf Rang 38 der Weltrangliste stand. Dann plötzlich „Bandscheibenvorfall, Lähmungserscheinungen, Operation“, ein Jahr spielt er kaum, Weltranglisten-Abstieg bis auf 490. „Da bist du quasi wieder bei Null.“
Es ist eine ungleiche Karawane, die bei den Grand-Prix-Turnieren von Qualifikation zu Qualifikation zieht. Tragisch Abgestürzte wie Braasch oder der Australier Pat Cash (32). Der kam als 433. der Welt nach Roehampton. Mit Knien, in denen keine natürlichen Knorpel mehr stecken. 1987 hat er Wimbledon gewonnen. Das ist auch eine Art Jubiläum. Auf der anderen Seite des Tennisnetzes stehen 18-, 19jährige, die von ihren Verbänden mit Fördergeldern abgesichert werden und in den Qualifikationen nur ein Durchgangszimmer zum Glück sehen. Und dann sind da die 22-, 23jährigen, die schon zu lange dabei sind, als daß sie noch blinde Hoffnung hätten. Sie beginnen zu ahnen, daß das Durchgangszimmer für viele nur eine Tür hat: den Hinterausgang.
Etwa 400 hatten sich am Sonntag eingeschrieben. Die 280 mit den schlechtesten Weltranglistenplazierungen fuhren Stunden später dorthin zurück, wo sie hergekommen waren. Zum Flughafen. Ohne auch nur den Schläger ausgepackt zu haben. Aber 16 sind gestern abend übriggeblieben. Sie werden am Montag beim großen Start in Wimbledon dabeisein. Gut möglich, daß der eine oder andere es zum Helden für einen Tag bringt. Die große Masse aber wird hoffen, das Endspiel von Wimbledon selbst im Fernsehen zu verpassen. Denn zu diesem Zeitpunkt laufen bereits die Qualifikationen für die nächsten Turniere. Fernsehen können nur die, die dann bereits wieder ausgeschieden sind.
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