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Traum vom selbstbestimmten Leben

Annemarie Stickel ist Einzelgängerin. Weil sie behindert ist, muß sie trotzdem im Heim leben. Ihre Anträge auf Entlassung werden von der Sozialbehörde regelmäßig abgelehnt – draußen wäre Hilfe zu teuer  ■ Von Marina Mai

Das Heim der Fürst-Donnersmarck-Stiftung für behinderte Menschen liegt im grünen Frohnau, weitab von jedem Verkehrslärm. Die Bewohner haben eigene Zimmer. Ein Aufenthaltsraum und eine sonnige Terrasse bieten Kommunikationsräume.

Das ist die Außensicht, meint die 34jährige Annemarie Stickel, die seit ihrem dritten Lebensjahr in Heimen wohnt. Die Spastikerin würde gern einmal die Tür hinter sich zumachen können. Doch die Zimmertür ist nicht verschließbar. Weil sie die Klingelanlage nicht selbst bedienen kann, könnte sie niemand mehr hören, wenn sie Hilfe braucht. Und die braucht sie. Selbst vor dem Gang zur Toilette muß sie jemand in den Rollstuhl heben. Zum Waschen wird sie vom Pflegepersonal nackt ins Bad gefahren – vorbei an den neugierigen Blicken der Mitbewohner. Straßenlärm nähme Annemarie Stickel gern in Kauf, wenn sie dann nicht mehr jedes Geräusch der Mitbewohner, die sie sich nicht aussuchen konnte, hautnah mithören müßte.

Annemarie Stickel, die einzige Frau im Heim Am Querschlag, würde gern in eine eigene Wohnung ziehen. Das aber geht nicht: Das zuständige Reinickendorfer Sozialamt hat ihren Antrag und ihren Widerspruch abgelehnt. Eine eigene Wohnung und eine 24-Stunden-Betreuung durch ambulante Dienste kämen wegen der hohen Kosten nicht in Frage, hieß es. Zudem würde es der Fürsorgepflicht des Bezirksamtes nicht entsprechen, so Sozialstadtrat Rainer Lembcke (CDU), die behinderte Frau allein wohnen zu lassen. Katharina Reuter, sozialpolitische Sprecherin der Reinickendorfer Bündnisgrünen, bezeichnet dies als „unglaubliches Herrschaftswissen“.

Bis vor einem Jahr noch räumte das Bundessozialhilfegesetz einer ambulanten Hilfe für Behinderte den Vorrang vor der Heimunterbringung ein. Dann wurde das Gesetz geändert: Die Übernahme der Kosten für eine eigene Wohnung kann nun verweigert werden, wenn die Hilfe zu teuer und der Heimplatz zumutbar ist. Auch wenn diese Verweigerung nur eine Kann-Bestimmung ist, hat doch inzwischen jeder Sozialarbeiter den Spardruck im Hinterkopf, wenn er Entscheidungen trifft. Über den Umweg Sozialhilferecht kann auf diese Weise behinderten Menschen das Recht auf freie Wahl des Aufenthalts genommen werden.

„Ich halte es nicht aus, bis an mein Lebensende in einem Heim zu wohnen“, sagt Annemarie Stickel. Die Frau bezeichnet sich als Einzelgängerin, ist aber gezwungen, mit anderen Menschen auf engstem Raum auszukommen. Sie muß ihren Tagesablauf gestalten, wie es andere für sie bestimmen. Will sie sich gegen 19 Uhr hinlegen, soll sie sich gleich zur Nacht betten. Sie träumt von dem Leben „draußen“. Ihre Möbel möchte sie selbst auswählen. Und sie will kommen und gehen, wann sie es möchte. Einen Abstecher zu „Kino, Theater, Selbstbestimmt Leben e.V.“ – will sie machen, ohne 14 Tage vorher um eine Begleitung nachsuchen zu müssen.

All das ist im Heim nicht möglich: Ihre Anträge auf Begleitung auf einem dieser kleinen Ausflüge wurden wegen Personalmangels oft abgelehnt. Denn die sechs schwerbehinderten Menschen einer Wohngruppe teilen sich ganze zwei Betreuer. In einer eigenen Wohnung hätte Stickel einen Assistenten zumindest zeitweise ganz für sich allein. Sie könnte wieder zum Computerkurs gehen, den sie vor zwei Jahren abbrach: Eine regelmäßige Begleitung war nicht mehr möglich. Und ein Computer zum Üben hat in ihrem kleinen Zimmer im Heim keinen Platz.

Sie möchte Möbel aussuchen und ausgehen

Die Sparpolitik des Senats versperrt nicht nur vielen Menschen den Auszug aus dem Heim. Nach Angaben des bündnisgrünen Abgeordneten Dietmar Volk werden auch Behinderte, die bislang in der eigenen Wohnung wohnen, ins Heim gedrängt. Ein kompliziertes Modulsystem zwingt Behinderte, nach Standardzeiten zu funktionieren. Für die Morgentoilette stehen zum Beispiel nur 30 bis 45 Minuten zur Verfügung, doch viele Schwerbehinderte benötigen erheblich länger dafür (siehe Kasten). Pfleger werden beispielsweise gezwungen, den Toilettengang mehrfach abzurechnen, um ihn bezahlt zu bekommen.

Offiziell soll das Modulsystem als Experiment laufen, aber die Abgeordneten des Parlaments haben schlicht vergessen, rechtzeitig eine wissenschaftliche Begleitung einzuplanen. Volk befürchtet, daß der „Modellversuch“ über die Hintertür auf Dauer festgeschrieben wird. Wie sollen die Abgeordneten ohne empirisch erhobene Daten über die Sinnhaftigkeit des Versuches entscheiden?

Einige Behinderte sind schon ins Heim gezogen, weil ihnen die zu Hause gewährte Hilfe nicht mehr ausreichte. Die Hoffnungen auf bessere Pflege werden aber schnell enttäuscht, denn die Heime müssen auch Personal sparen. Annemarie Stickel hat mehr als einmal die Erfahrung gemacht, eine halbe Stunde mit Schmerzen auf der Toilette zubringen zu müsen, weil niemand sie abholte. Die Pfleger waren mit anderen hilfsbedürftigen Mitbewohnern beschäftigt.

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